Die gesetzliche Verpflichtung zur Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz betrifft alle Unternehmen: egal ob groß oder klein. Dabei wird die Evaluierung oft auf die reine Messung reduziert. Aber ist es überhaupt eine reine Messung? Oder handelt es sich bei derartigen Vorhaben nicht um idealtypische Prozesse der Organisationsentwicklung?
Sie ist in aller Munde: die Evaluierung der psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, die seit einer Novelle des ASchG in Österreich gesetzlich vorgeschrieben ist. Kleinbetriebe betreten mit der Evaluierung der psychischen Belastungen dabei häufig Neuland und befassen sich erstmalig mit derartigen Fragestellungen.
Für Großbetriebe mit einer breiten Maßnahmenpalette und professionellen Strukturen stellt sich die gesetzliche Verpflichtung hingegen oft ein wenig lästig dar. Vor allem wenn die Themengebiete der Evaluierung bereits über andere bestehende und etablierte Initiativen der Organisationsentwicklung (bspw. Mitarbeiterbefragung, Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung) unternehmensintern erhoben und behandelt werden. Für viele Großunternehmen stellt sich damit gleichzeitig die Frage ob und wie sich der Evaluierungsprozess in bestehende OE-Prozesse integrieren lässt. Ist die Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz lästige Pflicht also oder vielleicht sogar Kür für die eigenen OE-Prozesse?
Organisationsentwicklung und Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz
Die moderne, häufig systemisch geprägte Organisationsentwicklung folgt meist den folgenden, breit anerkannten Prinzipien:
- die frühzeitige und breite Partizipation der Betroffenen im Veränderungsprozess
- Veränderungsprozesse müssen im Alltag verankert werden, nicht punktuell oder gelegenheitsbezogen inszeniert werden
- Veränderung ist ein Lernprozess, keine plötzliche Revolution
- Lösungs- statt Problem- oder Ursachenorientierung
- Veränderungsprozesse müssen der Komplexität einer Organisation entsprechen
Diese Prinzipien sind es, die die Organisationsentwicklung heute vielfach prägen und den Satz „Betroffene zu Beteiligten machen“ breit bekannt gemacht haben. Aber sind diese Prinzipien auch auf die gesetzlich verpflichtende Evaluierung psychischer Belastungen anwendbar?
Grundprinzipien der Organisationsentwicklung
In diesem Lichte betrachtet entsprechen die gesetzlich ausformulierten Anforderungen des Arbeitsinspektorates an Evaluierungsprozesse bzw. an umzusetzende Maßnahmen im Rahmen der Evaluierung vielfach jenen der Organisationsentwicklung. So lässt sich bspw. aus ASchG Dokumenten herauslesen:
- Im Evaluierungsprozess möglichst flächendeckende Partizipation der Beschäftigten zu ermöglichen
- Lösungsorientierung durch die und in der verpflichtenden Maßnahmenentwicklung an den Tag zu legen
- Alltagsbezogene Veränderung über Umsetzung von Maßnahmen anzustreben, die kollektive Wirksamkeit entfalten
Diese Forderungen sind weit über eine reine „Messung“ hinausgehend und entsprechen klar den Prinzipien der Organisationsentwicklung. Auch wenn es kaum Erwähnung findet: nimmt man die Evaluierung psychischer Belastungen als Arbeitgeber ernst, dann ist es nicht eine kurze schriftliche Messung mit nachfolgendem mini-Workshop. Dann handelt es sich um einen fundamentalen Organisationsentwicklungs-Prozess der systemisches Fachwissen und Kompetenzen erfordert.
Gesetzlichen Rückenwind nutzen
Und auch wenn der Umstand einer gesetzlichen Verpflichtung oftmals auf wenig Gegenliebe stößt, so birgt er doch Vorteile: der gesetzlich verpflichtende Charakter der Evaluierung der psychischen Belastungen kann genutzt werden, um organisationsinternen Veränderungswiderstand von Führungskräften oder Mitarbeitern zu überwinden, oder zumindest das Vorhaben zu legitimieren bzw. zu plausibilisieren. Es wird ein klarer Verwertungszusammenhang geschaffen und ein „sense of urgency“ im Falle festgestellter Belastungen.
Aus diesem Blickwinkel mag der Evaluierungsprozess per se zwar gesetzliche Pflicht sein, eine qualitativ hochwertige Gestaltung des Prozesses offenbahrt aber ein breites Potenzial an Veränderung, das Unternehmen langfristig transformieren kann. Denn die Evaluierung berührt mit den abgefragten Themen so gut wie jeden Interaktions- und Kommunikationsprozess eines Unternehmens.
Meine Sichtweise ist demnach klar: Auch wenn es eine Verpflichtung darstellt, sollte man es als Kür betrachten. Nicht nur zu „Evaluieren“ sondern auch gemeinsam zu verändern!
Co-Autorin
Mag. Victoria Grothe studierte Psychologie und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Wien. Im Rahmen des Studiums spezialisierte Sie sich in den Bereichen psychologische Diagnostik sowie Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Bei der vieconsult GmbH verantwortet Sie das Themenfeld „Evaluierung psychischer Belastungen“.
Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz: Pflicht oder Kür