„Wir nehmen die bestpassende Person für den Job. Wir entscheiden anhand fachlicher Kriterien und treffen eine objektive Auswahl.“ Diesen Satz würden viele Recruiter für sich in Anspruch nehmen. Danach gefragt, ob sie diskriminieren, würden sie strikt verneinen. Es seien stets objektive Kriterien, die zur Anwendung kämen. Und trotzdem bilden unsere Unternehmen bei weitem nicht jene Vielfalt ab, die die Gesellschaft zu bieten hat. Schuld daran sind (unter anderem) „Unconscious Bias“. Denn selbst wenn wir nicht diskriminieren wollen, tun wir es trotzdem. Und beschneiden damit das mögliche Potenzial an Arbeitskräften deutlich.
Was ist Unconscious Bias?
Wir sind permanent mit einer Unzahl an Eindrücken und Einflüssen umgehen, die wir verarbeiten wollen und müssen. Studien legen nahe, dass in jeder Sekunde rund 11 Millionen Informationseinheiten auf uns einprasseln. Aber wir können nur 40 davon bewusst verarbeiten. Umso wichtiger ist es für unser Gehirn, die Komplexität zu reduzieren. Es bilden sich also Muster aus, auf die wir rasch zurückgreifen, wenn wir Entscheidungen treffen müssen – ein überlebenswichtiger Mechanismus.
Wir lernen im Laufe unseres Lebens, Menschen und Situationen anhand gewisser Muster zu kategorisieren. Dabei sind das Umfeld, in dem wir aufwachsen, Erfahrungen, die wir machen oder die Erziehung genauso prägende Faktoren wie etwa Medien. Gerade in der jüngsten Zeit zeigt sich deren Einfluss auf unsere unbewussten Vorannahmen besonders. Etwa in der Frage „Wer vergewaltigt?“. Die Antwort wäre vor einigen Jahren bei vielen Menschen ganz anders ausgefallen als sie es heute tut. Um es also wissenschaftlich auszudrücken: Unconscious Bias sind verhaltenswirksame Tendenzen in der Beurteilung von Menschen und Situationen, die auf unbewusste Wahrnehmungs- und Lernmechanismen zurückgehen.
Unconscious Bias erlauben uns, Menschen und Situationen aufgrund bestimmter Merkmale schnell und automatisch in soziale Gruppen einzuordnen. Dabei schreiben wir diesen Personen unbewusst auch Eigenschaften zu, die zwar nicht beobachtet werden, aber mit der jeweiligen Gruppe assoziiert werden. (Hierzu möchte ich Ihnen den Test „Wer bin ich?“, der auf der ZARA Homepage zu finden ist, sehr ans Herz legen. Er zeigt dieses Phänomen sehr eindrücklich.)
Und genau hier liegt das Kernproblem im Recruiting: Diese „soziale Kategorisierung“ reduziert zwar die Komplexität, führt aber auf der anderen Seite rasch zu Stereotypisierung und Über-Generalisierung bestimmter Eigenschaften.
Wie Diskriminierung entsteht, ohne diskriminierend sein zu wollen
Untersuchungen im Feld des Recruitings haben sehr deutlich gezeigt, wie sehr wir Entscheidungen im Recruiting auf Basis unserer unbewussten Vorannahmen treffen. Im Jahr 2010 wurden in einem Versuch in Groß Britannien 3000 Bewerbungen versandt. 1000 davon hatten einen typisch „weißen“ Namen, 1000 einen typisch asiatischen und 1000 einen typisch afrikanischen Namen. Sonst waren die Bewerbungen identisch. Die Ergebnisse zeigten deutlich: Bewerber mit einem weißen Namen mussten im Schnitt 9 Bewerbungen senden, um eingeladen zu werden, die anderen im Schnitt 16, also fast doppelt so viele. Bei sonst identen Bewerbungsunterlagen.
Zwar mag es bei einigen Fällen eine bewusste Entscheidung gegen einzelne Kandidaten gegeben haben. Allerdings wird angenommen, dass vor allem unbewusste Vorannahmen für diesen Unterschied verantwortlich sind.
Denn ein spannender Effekt ist jener, dass selbst wenn es zu unbewussten Annahmen kommt, diese leicht rationalisiert werden. Es wären eben doch objektive Gründe, die gegen den einen oder anderen Kandidaten sprechen würden und für einen anderen und nicht unbewusste Kategorisierungen. Und wir fallen immer wieder in ähnliche Muster zurück, wodurch sich dieser Bias üblicherweise verstärkt (im Englischen wird dies „Confirming Evidence Trap“ genannt).
Wir sehen in Gedanken Männer in Führungsrollen und Menschen aus unserem eigenen Kulturkreis als bedeutend geeigneter für viele Positionen als andere. Dies hat nichts mit Sexismus oder Rassismus zu tun, es sind einfach unserer Erfahrungen und die Verschaltungen in unserem Gehirn, die uns so agieren lassen.
Unconscious Bias im Recruiting begegnen – was tun, um unbewusste Vorannahmen zu reduzieren?
Anhand der Tendenz unseres Gehirns, die auf Unconscious Bias zurückgehen, verzichten wir auf die Ausschöpfung des vollen Potenzials von Bewerbern und Bewerberinnen. Die schlechte Nachricht ist: Unconscious Bias können nicht ausgeschlossen werden. Es wäre gegen unsere Natur, diese Möglichkeit, unsere Umwelt zu vereinfachen, zu beseitigen. Viel mehr können wir nur versuchen, zum einen sensibel zu werden und zum anderen unser Gehirn „auszutricksen“, im dem wir Prozesse so gestalten, dass eine (Fehl-)Entscheidung aufgrund unbewusster Vorannahmen eher ausgeschlossen ist.
Die beiden Diversity Managerinnen Tinna C. Nielsen und Lisa Kepinski haben eine einfache, auf drei Ebenen fußende Methode erfunden, um Unternehmen zu mehr Inklusion zu bewegen. Sie nennen diese Ebenen „Inclusion Nudges“, also „Inklusionsschupser“.
1.) „Feel the need“ – Sensibilisierung durch Erleben
An erster Stelle steht auch hier die Sensibilisierung. Allerdings hat sich gezeigt, dass aus oben genannten Gründen das rein rationale Erfassen zu wenig weit greift. Um nachhaltig zu Verhaltensveränderungen beizutragen, sollte das Erleben im Fokus stehen. Spezielle Unconscious-Bias-Trainings verfolgen das Ziel, den Teilnehmern die Effekte erlebbar vor Augen zu führen und damit ein Umdenken, oder besser: Nachdenken, bei Entscheidungen anzustoßen. Beispielsweise verwenden wir obig beschriebenen Test mit verschiedenen Bewerbungen, bei denen sich nur Namen, Herkunft, Hautfarben unterscheiden, gerne als Beispiel, das den Teilnehmern rasch die Augen öffnet.
Als zielführend hat sich in Entscheidungssituationen, wie sie im Recruiting vorkommen, auch erwiesen, die Beobachtung, Interpretation und Bewertung von einander getrennt vorzunehmen – ein Vorgehen, das geübt sein will.
- Was nehme ich wahr? (zB „Die Bewerberin kommt aus Afrika, hat dunkle Hautfarbe, …“)
- Was macht dieser Eindruck mit mir? (zB „Ich gehe davon aus, dass ihre Deutschkenntnisse nicht 100%ig sind“; „Sie kennt möglicherweise unsere Kundenbedürfnisse zu wenig, weil sie einen anderen Hintergrund hat.“)
- Wie (positiv oder negativ) bewerte ich die Wahrnehmung und Interpretation? (zB „Unsere Kunden werden das nicht wollen; Das könnte ein guter Zugang zu neuen Kundensegmenten sein.“)
Vor allem aber die Gegenfrage, also „Würde meine Entscheidung anders aussehen, wenn die Person dieses Merkmal nicht hätte“ ist eine Wesentliche, um mögliche Vorannahmen aufzudecken.
2.) Entscheidungssysteme und -prozesse verändern
Durch Sensibilisierung alleine lassen sich aber noch nicht alle Unconscious Bias vermeiden. Vor allem weil sich solche vielfach auch in Prozessen und Systemen der Organisation widerspiegeln.
Entsprechend muss auch an den Prozessen selbst gearbeitet werden. Ein sehr plakatives Beispiel für eine solche Veränderung sind die mittlerweile vielerorts üblichen „Blind Auditions“ in Orchestern, die nun auch in einigen Talenteshows zur Anwendung kommen. Ursprünglich um den Anteil weiblicher Musikerinnen zu heben, fing man an, alle Bewerber und Bewerberinnen bei Auditions hinter einem Vorhang – also für die Jury nicht sichtbar – spielen zu lassen. Man ging sogar soweit, die Schritte durch einen Teppich abzufangen, um möglichst jede Vorinformation auszuschließen. Das Ergebnis war eindeutig: Bedeutend mehr weibliche und auch Musiker verschiedener Herkünfte spielen seitdem in den großen Orchestern.
Für den Unternehmensalltag bedeutet das, an den relevanten Entscheidungsprozessen und -punkten Änderungen vorzunehmen:
- Mehr-Augen-Prinzip bei Einladungs-und Einstellungsentscheidungen
- Kommissionelle Auswahlverfahren (einer diversen Kommission)
- Anonyme Bewerbungsmöglichkeiten
- Quoten, zB Teamquoten hinsichtlich einer diversen Teamzusammenstellung oder aber Einladungsquoten hinsichtlich der Einladung eines möglichst vielfältigen Mixes an Kandidaten.
Aber auch eine genaue Analyse ist dort, wo etwa nicht die gewünschte Bewerbervielfalt gegeben ist, notwendig, um die Entscheidungsgrundlagen potenzieller Kandidaten kennenzulernen. Beispielsweise können Anforderungen wie „Reisebereitschaft“ oder „zeitliche Flexibilität“ Bewerber bzw. Bewerberinnen von einer Bewerbung absehen lassen, weil sie zB mit Familie andere Prioritäten haben. Konkretere Angaben über die genauen Erwartungen (Anzahl der Reisetage, Übernachtungen, Arbeitszeiten, …) können das Bewerberfeld ausweiten.
3.) Den Wahrnehmungsrahmen ändern
Hierbei geht es darum, über Änderungen der Darstellung bzw. des Fokus Fragen aufzuwerfen. Beispielsweise erlaubt die Zahl „91% männliche Top Führungskräfte“ alleine noch kein intensives Nachdenken. Weil wir es „gewohnt“ sind (Unconscious Bias!), dass Frauen die Minderzahl darstellen. Setzt man aber Zahlen daneben, wie zB dass 52% der Gesamtbevölkerung weiblich sind oder aber dass 45% der Gruppenleiter weiblich sind, dann stellt sich Frage „Warum?“ fast automatisch.
Auch gendersensible Sprache verfolgt den Zweck, aufzuzeigen, was sonst übersehen wird. Denn Sprache trennt unsere Wahrnehmung in das, was benannt wird, und das, was nicht benannt wird. Allein die Sprache unterstützt unsere Vorannahmen in ungeahnt starker Weise.
Fazit
Unbewusste Vorannahmen beeinflussen Entscheidungen im Recruiting im besonderem Maße. Vor allem Unternehmen, die den Schritt von einem monokulturell geschlossenen zu einem multikulturell offenen Unternehmen vollziehen wollen, sollten beginnen sich nicht nur mit Diversity Management in einem organisationalen Sinne zu beschäftigen, sondern bei den unbewussten Annahmen der Akteure ansetzen. Denn selbst wenn die Vorzüge von diversen Teams rational bewusst sind, sind es die Unconscious Bias, die uns Steine in den Weg zum inklusiven Unternehmen legen.
Weitere Informationen: Unconscious Bias im Recruiting
Unconscious Bias Informationen der Deutschen Charta der Vielfalt
Eine Neuauflage dieses Themas finden Sie auch folgendem HRweb-Artikel. ⇒ Unconscious Bias im Recruiting | Diskriminieren, ohne es zu wollen / zu merken
Warum wir diskriminieren ohne diskriminierend sein zu wollen