Gerade Coaching-Ausbildungen müssen – im Gegensatz zu vielen anderen Ausbildungen – einen hohen Face-to-Face-Anteil haben. Denke ich. Stimmt nicht, sagt meine Experten-Runde, nicht zur Gänze.
Wie viel muss dieses, wie viel kann anderes sein? Bitte an den Interview-Tisch, liebe Experten-Runde:
Experten-Interview
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Wie hoch muss / soll der Face-to-Face-Anteil einer Coaching Ausbildung sein?
Miglena Doneva (ITO Individuum Team Organisation): Heutzutage ist für mich Face-to-Face ein relativer Begriff, denn dank moderner Medien kann man sich sehen und hören – trotz einer möglicherweise kilometerweiten Entfernung. Der Face-to-Face-Anteil hängt sehr stark von den Wünschen und Bedürfnissen der Teilnehmer ab. Aus diesem Grund bietet zB Erickson International die Coaching-Ausbildung sowohl Face-to-Face als auch zur Gänze online an.
Corinna Ladinig, MBA (CTC Academy): Das kommt sicher auf die Zielgruppe und das Lernziel der Coachingausbildung an – ich kenne Coaching Ausbildungen, die rein virtuell durchlaufen werden – die Frage ist: was kann der Teilnehmer nach der Ausbildung und wofür braucht er sie.
Wenn ich als Coach arbeiten möchte, dann plädiere ich für ein Blended Learning Konzept – mit 70/30 (wobei der online Anteil vorwiegend die Theorie beinhaltet und die Präsenz die Anwendung der Coachingmethoden und die Beantwortung der Fragen sowie Selbstreflexion.
Luzia Fuchs-Jorg (KICK OFF Management Consulting): Eine solide Coaching-Ausbildung braucht einen sehr hohen Face-to-Face-Anteil. Mindestens 70 % der gesamten Lernperiode soll unter „Beobachtung“/Supervision passieren. Ca. 30 % der Ausbildungszeit können im Alleingang bewältigt werden. Warum so ein hoher Face-to-Face Anteil, werden Sie sich jetzt denken – gerade in einer Zeit, wo digitales Lernen stark im Vormarsch ist. Das lässt sich gut begründen. Coaching ist eine Tätigkeit, die man nicht (nur) in der Theorie lernen kann. Es ist eine Tätigkeit, die man nur in vielen Lern- und Feedbackschleifen, durch viel Üben und Ausprobieren erlernen kann. Manche Fähigkeiten, die in Coaching-Sitzungen nötig sind, entwickeln sich erst durch unendlich viel Erfahrung in der Begleitung von Menschen. Für den Lehr-Coach heißt das, ständig als Supervisor und Feedbackgeber die Jung-Coaches zu begleiten und sie behutsam ihre Erfahrungen machen zu lassen.
Mag. Renate Strommer (ASO & Wilak): Die Herausforderung liegt in der Umsetzung von Theorien in die Praxis. Daher ist es in der Ausbildung wichtig, alle Theorieimpulse in die praktische Umsetzung zu bringen. Allein darüber reden zu können, reicht nicht aus. Es geht um Wissen, Verstehen UND Verbinden mit der individuellen Komplexität der Kundenwelt. Das Lernen ist mit viel Praxis und Übungen Face to Face verbunden.
Face to Face-lernen betrifft viele Lernebenen, beispielsweise Coach-Coachee-Ebene im Trainingssetting mit Kollegen, dann mit Trainingskunden, Life-Coaching-Präsentationen im Training, Supervision der Coaching-Arbeit, Peergruppenarbeit.
Teilnehmer schätzen es, bei der Arbeit beobachten zu können, selbst in Umsetzung zu gehen, allerdings wird dabei qualifiziertes Feed Back oder in einem Time-Out Reflexion analog zu Reflecting Team-Arbeit als wertvoll erarbeitet.
Aus meiner Erfahrung als Anbieter von Coaching-Ausbildungen kann ich sagen, je mehr Praxis angeboten wird, desto leichter erreicht der Teilnehmer das Ziel „Ich kann einen Entwicklungsprozess sicher führen“. Daher ist der Face-to Face Anteil in meinen Angeboten 80 %. Die einzige Ausnahme ist das Literaturstudium.
Mag. Michael Tomaschek, MSc (ESBA-European Systemic Business Academy): Da die Anwendung von Coachingskills primär einer Haltungsänderung und ein einüben der spezifischen Rolle als Coach – im Unterschied zur meist gewohnten Expertenrolle – bedeutet, sind Präsenzzeiten mit face-to-face Einheiten ein ganz wesentlicher Bestandteil qualifizierter Ausbildungen. Diese Übungseinheiten können natürlich auch mit neuen Technologien und damit in der Distanz erfolgen, jedoch braucht es die Möglichkeit von persönlichen Feedback und Reflexion, die meist auch um wirksame Reaktionen und Verhaltensänderungen auszulösen persönlich und emotional in einem „geschützten Rahmen“ Erfolgen sollte. Diese Intensität erreichen wir mangels Gewohnheit und Fertigkeiten in der Anwendung dieser neuen Technologien derzeit meist nur im direkten persönlichen Kontakt.
Um an dieser Stelle eine Zahl zu nennen würde ich den face-to-face Anteil mit mind. 60% der Lehrgangszeit bemessen. Zumal wir mit anderen Formaten das konzentrierte gemeinsame Arbeiten erfahrungsgemäß nur mit viel mehr Aufwand herstellen können. Die berühmte Auszeit gerade aus dem Berufsalltag und das Fernab vom gewohnten Ort ermöglicht eine andere Einstimmung und Fokussierung – nicht nur für die Ausbildung sondern auch in der Coaching Anwendung selbst.
Mag. Dr. Günter Lueger (Potenzialfokuscenter): Eine Coaching Ausbildung ohne hohen Anteil an Face-to-Face Interaktion wäre wie eine Ausbildung im „Trockendock“. Natürlich sind Dinge wie Literaturstudium, Lernplattformen, blended learning sinnvoll, gerade kognitive Inhalte lassen sich so oft effizienter vermitteln. Aber eine Coaching Ausbildung ohne einen extrem hohen Anteil wäre die Qualität und Professionalität betreffend unverantwortlich.
Der Erfolg von Coaching wird stark von Beziehungsfaktoren und auch intuitiven Komponenten beeinflusst, die vor allem im Face-to-Face Kontakt wirken. Vor allem die Entwicklung der Potenziale beim Coachee – die wir beim Potenzialfokussierten Coaching im Auge haben – hängt oft an kleinen Gesten und Haltungen und dem Ver- bzw. Zutrauen, die meiner Erfahrung nach Face-to-Face viel stärker wirken. Das muss sich auch auf der Ausbildungsebene spiegeln.
Eine Coaching-Ausbildung muss diese Ebene den angehenden Coaches vermitteln und das ist nur in einem Direkt-Kontakt im Seminar bzw. Lehrgang möglich. Für den möglichst hohen Anteil sprechen auch noch folgende Punkte:
- Coaching ist Handlungskompetenz und Handeln kann ich nicht oder nur schwer über Literatur, IT-Medien usw. vermitteln (vielleicht können andere das, ich aber nach 30 Jahren kann es noch nicht)
- Ich bin als Ausbildungsleiter gemeinsam mit den DozentInnen in unserem Team Vorbild und „role-model“ und wir wirken durch unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten – ganz real und nicht virtuell und auch nicht durch unsere Veröffentlichungen und Texte. Vor allem auch Interventionen und Unterstützung in realen Coaching-Sequenzen der Teilnehmer zum richtigen Zeitpunkt benötigen unabdingbar den Direktkontakt.
- Die Interaktion und der Austausch der angehenden Coaches in der Ausbildungsgruppe (untereinander) hat eine ganz besondere Qualität und Wirkung auf die Handlungskompetenz der Coaches. Die Kollegen in der Ausbildung sind aus meiner Sicht „2. Pädagogen“ neben den Dozenten, die in manchen Phasen von Lehrgängen mehr bewirken als die Dozenten. Ohne Direktkontkakt wäre man da fast im Niemandsland!
- Ein Faktor wird im Coaching als Potenzial-Treiber immer klarer: die Präsenz des Coaches und seine Haltung in Richtung „Ermöglichung“. Diese Präsenz muss in Interaktionsprozessen weiterentwickelt werden.
Wie hoch muss / soll der Face-to-Face-Anteil sein, wenn gegraphisch eine große Distanz zwischen Ausbildung & Teilnehmer liegt?
DI Elisabeth Alder-Würrer (Alder Consulting): Gute Frage, aber theoretisch kann ich das nicht beantworten. Als Ausbildungsleiterin einer Coaching- und Supervisionsausbildung nach ANSE Standard in der Ukraine bleibt mir gar nichts anderes übrig, als auf technische Unterstützung zu bauen. Das geht soweit, dass wir erfolgreich Lehrsupervisionen machen, bei denen die Supervisorin in Wien sitzt, die Übersetzerin in L‘viv und die Supervisandin in Kiew. Das funktioniert aber sicher nur deshalb so gut, weil wir einander sehr gut kennen, und weil Stundenprotokolle vorab geliefert werden.
Organisatorisches wäre ohne Internet auf diese Distanzen nicht machbar. Und wenn ich in Österreich für Supervisionsausbildungen arbeite, dann wundere ich mich immer wieder, wieviel da noch von Hand gemacht wird.
Eine gute Coaching- und Supervisionsausbildung bringt den Teilnehmern nicht nur bei Standardverfahren anzuwenden, sondern hat einen Schwerpunkt auf Reflexion und Entwicklung der Identität als Supervisor/Coach. Um da als Ausbildnerin einen guten Job zu machen, muss man die Menschen gut wahrnehmen, in verschiedenen Situationen beobachten und oft durch kleine Interventionen in der Gruppe oder im Gespräch fordern und fördern.
Coaches und Supervisoren auszubilden bedeutet für mich, den Diamanten in jedem der Teilnehmer zu sehen und zum Glänzen zu bringen. Das geht meiner Einschätzung nach (heute noch) nicht via Internet.
Die Gesprächspartner
Coaching-Ausbildung | So viel Face-to-Face muss sein
Corinna Ladinig, MBA CTC Academy OG Miglena Doneva ITO Individuum Team Organisation GmbH DI Elisabeth Alder Alder Consulting Mag. Michael Tomaschek, MSc E.S.B.A- European Systemic Business Academy Mag. Sabine Prohaska seminar consult prohaska Luzia Fuchs-Jorg Kick Off Management Consulting GmbH Mag. Renate Strommer ASO & WiLAk GmbH Mag. Dr. Günter Lueger Potenzialfokus Center |