„Der Wunsch nach Gerechtigkeit“ – das ist sehr häufig am Beginn meiner Seminare die Antwort der Teilnehmer auf die Frage, was sie in einer Konfliktsituation antreibt. Wenig überraschend dann deren Verwunderung, wenn sie meine Meinung dazu hören: „Das ist schlecht.“
Bevor nun die ersten Seminarteilnehmer zu überlegen beginnen, ob sie den richtigen Trainer gebucht haben, steigen wir ein in eine Diskussion, die wesentlich ist, um die Mechanismen in Konfliktsituationen zu verstehen. Und damit die Basis für gemeinsame Lösungen zu legen.
Gerechtigkeit – was ist das?
Der österreichische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat sich bereits vor vielen Jahren mit der Frage beschäftigt: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“. Und festgehalten, dass jeder Mensch in seiner eigenen Wirklichkeit lebt bzw. sich diese immer wieder neu gestaltet. Oder anders gesagt: Jeder Mensch hat seine eigene Vorstellung darüber, wie die Welt zu funktionieren hat. In Summe gibt es also aktuell ca. 7,63 Mrd. verschiedene Weltbilder auf diesem Planeten.
Genauso verhält es sich mit der Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“. Was vermuten Sie passiert, wenn Sie in einem Konfliktfall den beteiligten Parteien die Frage nach einer gerechten Lösung stellen? Genau, Sie bekommen mit Sicherheit ganz unterschiedliche Lösungen präsentiert. Und alle Parteien wären überzeugt davon, dass ihre Lösung die einzig richtige (=gerechte) ist.
Was ist Gerechtigkeit? Diese Frage lässt sich nur so beantworten: Für jeden etwas anderes. Gerechtigkeit ist also immer subjektiv. Und genau das führt in Konfliktsituationen dazu, dass die Konfliktparteien mit voller Wucht aneinanderprallen. Die täglich erlebte Praxis in der Konfliktberatung zeigt, dass es keinen stärkeren Konflikttreiber gibt, als das Gefühl im Recht zu sein oder ungerecht behandelt zu werden.
Gerechtigkeit – Der Turbo hinein in die Konfliktspirale
Ein stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn führt im Konfliktfall recht bald dazu, dass es nicht mehr um den konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen geht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt geht es den Konfliktparteien nur mehr um eines: Recht zu behalten bzw. sich für erlitten geglaubtes Unrecht zu rächen. Ist dies der Fall, sind beide Seiten bereits im Konflikt gefangen und nicht mehr in der Lage, diesen ohne externe Hilfe zu lösen.
Jeder von uns kennt vermutlich so einen Fall. Egal ob Nachbarschaftsstreit, Konflikt unter Beziehungspartnern oder Arbeitskollegen: Die Streitparteien reden zwar miteinander, bringen aber immer wieder die gleichen Argumente vor. Getrieben von der eigenen Überzeugung im Recht zu sein, dreht man sich endlos im Kreis, bis es einem der Beteiligten reicht. Und dieser dann das tut, wovon er glaubt, dass es richtig ist. Er setzt also seine Gerechtigkeit um.
Die Folge? Beim Gegenüber entsteht das Gefühl betrogen, über den Tisch gezogen oder ausgenutzt worden zu sein. Befeuert von all diesen negativen Emotionen wird das Unrecht mit gleicher Münze zurückgezahlt. Das Motiv hat sich allerdings gewandelt. Es geht nicht mehr um Gerechtigkeit, sondern um Rache. Dafür wird viel in Kauf genommen. Sogar ein eigener Schaden. Wichtig ist, dass der Schaden beim Gegenüber größer ist.
Wie die Geschichte weiter geht? Es gibt mit Sicherheit für beide Seiten kein Happy End….
Fazit
Wer hat recht? Was ist gerecht? Diese Fragen bringen im Konfliktfall keine Lösung. Sie engen die eigene Sichtweise ein, weil sie davon ausgehen, dass es nur eine Wahrheit gibt. Und damit bleibt jeder in seinem Weltbild verhaftet.
Warum hat mein Gegenüber eine andere Meinung? Wie ist seine Sicht der Dinge? Diese Fragestellungen führen dazu, dass man sich im Konfliktfall in das Gegenüber hineinversetzt. Dieser Perspektivenwechsel ist Voraussetzung dafür, um bei unterschiedlichen Zugängen zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Das setzt allerdings auch voraus, dass man bereit ist zu akzeptieren, dass es verschiedene Wirklichkeiten gibt. Und das die eigene Gerechtigkeit nur eine von 7,63 Mrd. auf diesem Planeten ist.
„Gerechtigkeit ohne Gnade ist nicht viel mehr als Unmenschlichkeit.“
(Albert Camus, franz. Schriftsteller)
Gerechtigkeit | Ein Brandbeschleuniger in Konfliktsituationen im Office