Die verordneten Maßnahmen zur Eindämmung von COVID19 haben tiefe Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen. Dieses Virus hat unser Leben komplett verändert und gleichzeitig viele(s) in neuem Licht erscheinen lassen.
Mittlerweile kennt sicher jeder jemanden in seinem nahen Umfeld, der beim Thema COVID19-Maßnahmen eine exakt konträre Meinung zu der eigenen hat. Und der absolut nicht bereit ist, diese zu hinterfragen, geschweige denn zu ändern. So wie man selbst auch. Familienmitglieder oder beste Freunde – sobald das Wort „C….19“ fällt, prallen die einbetonierten Meinungen aufeinander. Und die Emotionen kochen hoch….
Bestenfalls geht man sich aus dem Weg, im schlimmsten Fall für immer, wie der Bruch zahlreicher Beziehungen und Freundschaften zeigt. Das ist fatal, denn gerade in Krisenzeiten brauchen wir einander. Die stabile Beziehung zum Mitmenschen ist einer der wichtigsten Pfeiler, der unsere Widerstandsfähigkeit stützt.
Diese im nahen Umfeld erlebte Spaltung zieht sich quer durch alle Gesellschaftsschichten. Maßnahmenbefürworter und Maßnahmengegner stehen sich immer unerbittlicher gegenüber. Jetzt stellt sich bloß die Frage, wie lassen sich diese tiefen Gräben wieder überwinden?
Die Bedürfnisse hinter der Position anerkennen
„Worte können Fenster sein oder Mauern“ – dieses Zitat stammt von Marshall B. Rosenberg, dem Begründer der Gewaltfreien Kommunikation. Ich hatte 2006 im Zuge einer Mediatoren-Fortbildung die Ehre, Marshall persönlich kennen zu lernen. Ich habe aus diesem Workshop vieles mitgenommen, vor allem aber Marshalls Überzeugung, dass auch in den schlimmsten Konfliktsituationen eine Lösung möglich ist.
Sehr gut kann ich mich noch an seine Schilderung über eine Stammesfehde in Afrika erinnern. Er war von der UNO als Friedensvermittler zu zwei verfeindeten Stämmen geschickt worden. Und er erzählte vom Verhandlungsbeginn mit den beiden Stammeshäuptlingen. Als er diese das erste Mal traf, wusste er bereits, dass in den vorangegangenen Kämpfen auch der Sohn des einen Häuptlings vom Stamm des anderen Häuptlings getötet worden war. Das war die Ausgangssituation seiner Mediationsarbeit. Schwieriger geht es wohl kaum.
Es ist ihm trotzdem gelungen, erfolgreich zu vermitteln. Wie genau? Das im Detail zu beschreiben, würde hier den Rahmen sprengen. Aber wie immer in der Mediation, war das Sichtbarmachen der jeweiligen Bedürfnisse auch in diesem Fall der Schlüssel zum Erfolg. Wenn wir erkennen, dass hinter der unverrückbaren Position unseres Gegenübers Verletzungen, Ängste oder ähnliche Emotionen stecken, sind auch wir bereit, unsere Position zu überdenken. Und uns einander wieder zuzuwenden und dem anderen offen zuzuhören.
Oder wie Marshall gesagt hat: „Du kannst dich jederzeit entscheiden, wie du die Worte deines Gegenübers aufnimmst. Diese Macht liegt bei dir.“
Auch kleine Stege helfen
Wir sehen uns zwar (noch) keiner Stammesfehde gegenüber, aber die Zeichen in unserer Gesellschaft stehen auf Sturm. Und wir sind auch keine großen Brückenbauer, so wie Marshall Rosenberg einer war. Das ist auch nicht erforderlich. Es ist schon sehr viel gewonnen, wenn es uns beim nächsten Streitgespräch über COVID-19 gelingt, die Gedanken in unserem Kopf abzurüsten. Denn das führt unweigerlich auch zu einem Abrüsten der Worte.
Wenn wir es dann auch noch schaffen, uns zu fragen, welche Ängste und Sorgen hinter der Position unseres Gegenübers schlummern könnten, werden wir wieder den Menschen im Gegenüber sehen und nicht den Feind. Und dann haben wir einen kleinen Steg gebaut, der uns miteinander verbindet. Diesen brauchen wir, um die ersten Gräben zu überwinden und uns einander wieder konstruktiv zuwenden zu können.
Um solche Stege in unserer Gesellschaft zu bauen, brauchen wir nicht auf unsere politischen Entscheidungsträger zu warten. Denn die Genetik in der Politik ist auf Positionen und Machterhalt ausgerichtet und orientiert sich daher immer nur oberflächlich an den Bedürfnissen der Menschen. Diese abschreckende Vorbildwirkung macht das Brückenbauen für uns nicht leichter. Aber es ist so wie in den Unternehmen: Wenn die Geschäftsführung hoffnungslos zerstritten ist, können Führungskräfte und Mitarbeiter für den nötigen Zusammenhalt sorgen.
Es liegt daher an jedem von uns, Verantwortung für ein konstruktives Miteinander in unserer Gesellschaft zu übernehmen. In dem wir in unserem nahen Umfeld damit beginnen, wieder Brücken zu bauen und dafür Gräben zuschütten. Denn wir werden in den herausfordernden Jahren, die nun vor uns liegen, stabile Beziehungen zu unseren Mitmenschen brauchen. Mehr als je zuvor.
„Willst du recht haben oder glücklich sein? Beides geht nicht.“
Marschall B. Rosenberg (Psychologe & Mediator, 1934 – 2015)
Spaltpilz COVID19 | Brückenbauer verzweifelt gesucht