Die Verbindung von Home Office und betrieblicher Gesundheit hat irgendwo seine Grenzen. Im Experten-Interview frage ich: Wo sind konkret Abstriche zu machen oder ist doch mehr Home Office immer besser?
In meiner Experten-Runde finden sich Personen, die sich berufsmäßig mit Betrieblicher Gesundheitsförderung auseinander setzen.
Experten-Interview
Kann man sagen: „Je mehr Home-Office, desto besser“?
Mag. Gernot Kampl (IEPB): Nein! Eine Mischung von herkömmlicher Büroarbeit und Home-Office ist in den allermeisten Fällen anzuraten. Menschen sind und bleiben soziale Wesen. Es geht hier also etwa um Sozialkontakte und um informelle Kommunikation. Selbst bei bestmöglicher Planung ist der „Tratsch in der Kaffeeküche“ virtuell nicht wirklich ersetzbar. Permanentes Home-Office vermindert aber auch die Aufstiegschancen. Die Bedeutung von physischer Präsenz, insbesondere etwa bei der Präsentation von Geleistetem, und persönlichem Kontakt über Hierarchieebenen hinweg darf keinesfalls unterschätzt werden.
Anita Rainer (bab Unternehmensberatung): Wir meinen, der Satz müsste lauten, so viel Home Office wie sinnvoll und nützlich erlebt wird.
Für manche Unternehmen oder Bereiche ist es nicht möglich, alle Arbeiten sinnvoll im Home Office zu erledigen. Andere machen die Erfahrungen, dass es notwendig ist, ein gewisses Mindestmaß an Präsenzzeit im Unternehmen für das soziale Miteinander zu schaffen. Andere wiederum arbeiten erfolgreich und begeistert im Home Office und mit nur sehr wenig Vorgaben, was Lage und Ausmaß betrifft. Auch bei Beschäftigten gehen die Bedürfnisse dahingehend auseinander. Für manche ist Home Office ein Gewinn, manche wollen oder können Home Office nicht in Anspruch nehmen.
Wichtig ist daher, folgende Fragestellungen zu klären: Wie lässt sich bei uns die Arbeit neu organisieren? Welchen Rahmen wollen wir vorgeben? Was dürfen Führungskräfte und Mitarbeitende selbst entscheiden? Welche Tätigkeiten lassen sich gut im Home Office abwickeln? Wer verfügt über gute Rahmenbedingungen im Home Office? Was sollte unbedingt face to face bearbeitet werden? Und wieviel Anwesenheit braucht es für die Unternehmenskultur und den Austausch untereinander?
Mag. Beate Atzler, MPH (IfGP): Nein, kann man nicht. Wie immer sind in einer komplexen Arbeitswelt differenziertere Betrachtungen angebracht.
Für Branchen (und hier meine ich nur diejenigen, in denen das Arbeiten von zuhause überhaupt ein Thema ist) und ihre Führungsverantwortlichen, ist die COVID Pandemie und das damit einhergehende „Zwangs Home-Office“ sicherlich eine Möglichkeit ihre bisherige Einstellung dazu, zu überdenken bzw. ihre diesbzgl. Erfahrungen zu evaluieren. Es stellt sich-je nach Unternehmen- die Frage nach den Vor- und Nachteilen und zwar für beide Seiten. Bisherige Studien zeigen auf Seiten der Mitarbeiter durchaus eine höhere Arbeitszufriedenheit, eine verbesserte Work-Life Balance aber auch von erhöhten Stress und Überlastung. Auf betrieblicher Seite sind aber betriebswirtschaftliche Aspekte (z.B. ungenützte Büroräumlichkeiten), eine Reduzierung (oder gar Verlust ) des so wichtigen betrieblichen Sozialkapitals und andere berufliche Entgrenzungsentwicklungen (deren Auswirkungen wir noch gar nicht kennen oder wissen) durchaus kritisch zu reflektieren. Grundsätzlich bin ich aber davon überzeugt, dass es kein Zurück zum Vor Corona Zustand geben wird. Und das ist auch gut so, weil externe Einflüsse oftmals schon höchst notwendige Entwicklungsschritte von Unternehmen anstoßen. Gefragt sind nun Personalisten, denen es gelingt für ihr Unternehmen passende Regelungen zu finden, die für beide Seiten eine Win- win Situation darstellen. Auch mit Hinblick auf die Sicherung der betrieblichen Attraktivität für potenzielle Nachwuchskräfte.
Wo müssen konsequent Abstriche gemacht werden im Home Office wenn es um betriebliche Gesundheit geht?
Bernhard Schlosser (Virgin Pulse): Natürlich ist es etwas schwieriger, Gruppenaktivitäten wie zB Yoga Klassen, bewegte Pausen, ein gesundes Mittagessen oder einen Lauftreff zu organisieren, welcher gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen stattfindet und ein Instructor direkt auf Teilnehmer eingehen kann. Mit digitalem BGM ist es jedoch möglich, diese Initiativen in einer anderen Form stattfinden zu lassen. Man tauscht sich online zum Beispiel über gesunde Rezepte aus, geht mittags gleichzeitig spazieren und vergleicht hinterher die Schrittzahl oder bespricht in der Chat Funktion welche Aktivitäten man am Wochenende unternommen hat.
Daniel Ott-Meissl, MSc (WorkPlaceHealth): Ich glaube, dass es keine wesentlichen Abstriche geben sollte bzw. dass die betriebliche Gesundheit durch vermehrte Home-Office Möglichkeiten insgesamt sehr positiv entwickelt werden kann.
Meines Erachtens nach ist das nicht überall, in jeder Organisation, oder automatisch der Fall. Darauf würde ich persönlich nicht zählen, es bedarf weiterhin einer bewussten Arbeitsgestaltung wie auch angepasster Angebote zur Verhaltensprävention. Ansonsten kann auch eine durchwegs erfolgreiche Organisation beginnen zu „kränkeln“.
Dank zahlreicher, innovativer Angebote am Markt – mittlerweile auch nahezu alles darunter für Remote Work adaptiert – können Organisationen maßgeschneiderte Initiativen umsetzen und die gesamte Belegschaft erreichen.
MMag. Dr. Ingrid Pirker-Binder (Stress-Out): Essenziell Voraussetzungen für ein gesundheitsförderndes Home-Office ist der Verzicht auf ständige Kontrolle und ständige Erreichbarkeit. Dadurch, dass Mitarbeitende eben nicht mehr ständig kontrollierbar sind, braucht es auch ein mehr an Vertrauen seitens des Unternehmens. Auf der Seite der Arbeitenden muss dies durch Verantwortungs- und genereller Leistungsbereitschaft beantwortet werden.
In vielen Bereichen ist das Konzept von fixen Arbeitszeiten schon überholt, aber diese Entgrenzung und Flexibilisierung soll nicht dazu übergehen, dass Personen auch jederzeit und vor allem auch außerhalb der eigenen Arbeitszeit erreichbar sein müssen. Ruhe und Erholungszeiten müssen respektiert werden, um psychische und physische betriebliche Gesundheit zu ermöglichen.
Mag. Beate Atzler, MPH (IfGP): Ganz klar im Bereich der Einhaltung der Arbeitszeit. Durch das neue Home-Office Gesetz ist zumindest die nunmehrige Vereinbarungsverpflichtung, eine gute Möglichkeit Spielregeln festzulegen, die einer Betrieblichen Gesundheitsförderung nicht entgegenwirken. Auch sind gewisse Rahmenbedingungen, wie der Zugang zu Arbeitsmaterialien, Zugang zu betrieblichen Informationen und eine Aufrechterhaltung der „virtuellen“ Fürsorgepflicht seitens der unmittelbar Vorgesetzten, ein Gebot der Stunde.
Für Personalverantwortliche, Betriebliche Gesundheitsmanager und Vorgesetzte beginnt nunmehr eine neue Ära der Betrieblichen Gesundheitsförderung und des betrieblichen Gesundheitsschutzes –durchaus mit innovativen (auch digitalen) – neuen Herangehensweisen und Maßnahmen sowie einer neuen Haltung gegenüber Mitarbeitern, im Sinne von Vertrauen in die Mündigkeit der Mitarbeiter. Nur so kann die betriebliche Zukunft gestaltet werden.
Matthias Welkens, MBA (IBG): Das Homeoffice ist eng verstrickt mit dem Thema Digitalisierung – das bedeutet für die betriebliche Gesundheitsförderung natürlich auch eine Auseinandersetzung mit den Themen „Digital Native/ Immigrant“ sowie „digitale Akzeptanz“ und das Bewusstsein, dass vermutlich nicht alle Mitarbeiter gleich gut und nachhaltig erreicht werden können. Dies betrifft nicht nur die Kommunikation und Informationen aller Teilnehmenden sondern im gleichem Ausmaß auch die Verwendung von elektronischen Hilfsmitteln und Apps wie Schrittzählern, Erinnerungshilfen und Trackern. Wo auf der einen Seite vermutlich mit großer Selbstverständlichkeit mit den betrieblichen Gesundheitsangeboten umgegangen wird, herrscht auf der anderen Seite womöglich Scheu, Unsicherheit oder „blankes Entsetzen“.
Worauf sollten Organisationen besonders achten, wenn es um die gesetzliche Fürsorgepflicht im Zusammenhang mit Home-Office geht?
Daniel Ott-Meissl, MSc (WorkPlaceHealth): Es hat sich mittlerweile herauskristallisiert, dass erweiterte Home-Office Möglichkeiten gekommen sind, um zu bleiben. Die Corona-Krise hat die Geschwindigkeit dieser durchaus massiven Veränderung im Arbeitskontext für viele Berufsbilder bzw. Tätigkeitsgruppen natürlich beschleunigt.
Als Arbeitgeber sollten auch die gesetzlichen Anforderungen gemäß ArbeitnehmerInnenschutzgesetz im Hinblick auf die Arbeitsverhältnisse im Home-Office berücksichtigt werden. Derzeit werden einige Details noch nicht klar geregelt, der Gesetzgeber wird früher oder später nachziehen. Jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass die „klassischen“ Verpflichtungen weiterhin relevant bleiben. Dies betrifft beispielhaft das Unterweisen von Arbeitnehmern vor Arbeitsaufnahme oder auch das Sicherstellen von menschengerechten Arbeitsbedingungen.
In der Praxis beraten und unterstützen den Arbeitgeber hierbei die Präventivfachkräfte bzw. Präventivdienste mit, meines Erachtens nach, zunehmend bedeutsamer Rolle der Arbeits- und Organisationspsychologie. Neuartige „Gefahren“ am Arbeitsplatz sind mittlerweile weniger technischer oder körperlicher Natur, mehr jedoch psychologischer Natur.
Die Problemstellungen rund um die zunehmende Entgrenzung zwischen Arbeits- und Freizeit, fehlendes Detachment, mangelnde Kommunikations- und Informationsprozesse, steigende Arbeitsverdichtung und viele weitere Phänomene im modernen Arbeitsalltag sind weiterhin auf dem Vormarsch.
Organisationen jeglicher Größe und Branche sind daher gut beraten, diese Phänomene anzuerkennen und für echte Lösungen zur Unterstützung, ganz im Sinne der Fürsorgeplicht, zu sorgen.
Betriebliche Gesundheit | Je mehr Home Office desto besser?!
Die Gesprächspartner
Matthias Welkens, MBA IBG Innovatives Betriebliches Gesundheitsmanagement GmbH Anita Rainer bab Unternehmensberatung GmbH Bernhard Schlosser Virgin Pulse www.virginpulse.com Mag. Gernot Kampl IEPB – Institut zur Evaluierung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz GmbH Mag. Beate Atzler, MPH IfGP – Institut für Gesundheitsförderung und Prävention Daniel Ott-Meissl, MSc WorkPlaceHealth MMag. Dr. Ingrid Pirker-Binder Stress-Out |