Es ist paradox. Die aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt führen alle bisherigen Erfahrungswerte ad absurdum. Obwohl die Lebenshaltungskosten gerade explodieren, suchen immer mehr Unternehmen verzweifelt Personal.
INHALT
War bereits vor der COVID-19-Krise ein Fachkräftemangel allgegenwärtig, trifft es nun jene Branchen ganz besonders, die in der Vergangenheit kaum Wert auf Work-Life-Balance legten und einen wenig wertschätzenden Umgang mit ihren Mitarbeitenden pflegten. Für manche Betriebe in der Gastronomie, der Hotellerie, der Pflege oder im Handel ist dieser Personalmangel bereits existenzbedrohend.
Um zukünftig als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden, müssen sich aber auch viele Unternehmen in anderen Branchen am Arbeitsmarkt neu positionieren. Denn die Erwartungen und Ansprüche der Generationen Y und Z unterscheiden sich gewaltig von jenen der Baby-Boomer.
Falsche Personalentscheidungen sind teuer
„Ich führe lieber 50 Bewerbungsgespräche mit Personen und stelle niemanden ein, anstatt die falsche Person anzuwerben.“ Dieses Statement von Jeff Bezos, Gründer von Amazon, bringt es auf den Punkt. Falsche Entscheidungen bei der Personalauswahl können sich fatal auswirken. Aber gerade in Zeiten von Personalmangel agieren viele Führungskräfte nach dem Motto Trial & Error: „Besser irgendwer macht den Job, als noch länger suchen.“
Vielen Führungskräften fehlt ein Bewusstsein dafür, wie sich eine falsche Personalauswahl in der Bilanz auswirkt. Dabei sind die Suchkosten (Inserate, Personalberater etc.) noch der kleinste Kostenfaktor. Viel gravierender sind die Folgekosten, wenn ein neu eingetretener Mitarbeiter das Unternehmen bald wieder verlässt. So eine Entscheidung wird dieser nicht von heute auf morgen treffen, sondern dieser Prozess zieht sich über Wochen und Monate. Und in dieser Zeit bringt dieser Mitarbeiter sicher nicht mehr seine volle Leistung.
Und auch eine nachfolgende Mitarbeiterin beginnt nicht sofort mit einer Produktivität von 100 %. Sondern sie benötigt eine längere Phase der Einschulung und Eingewöhnung, bis die volle Leistungsfähigkeit erreicht wird. Was aus Unternehmenssicht bedeutet, dass bei einem Personalwechsel zwar weiterhin 100 % der Personalkosten anfallen, aber dafür keine entsprechende Gegenleistung erbracht wird.
Gerade in Krisenzeiten kann sich der Produktivitätsverlust aufgrund hoher Fluktuation fatal auswirken. Oder anders gesagt: In unsicheren Zeiten kann die Mitarbeiterbindung zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor am Markt werden.
Auf den passenden Stallgeruch achten
„Ich habe vielleicht nicht die besten Spieler Österreichs nominiert, sondern mich bemüht, die Richtigen auszuwählen. Und das müssen nicht immer die Besten sein.“ Für dieses Statement vor der Fußball-EM 2008 wurde der damalige Teamchef Österreichs, Josef Hickersberger, schwer kritisiert. Dessen ehrliches Eingeständnis, nicht zwingend auf die Besten zu setzen, wurde medial als NOGO gebrandmarkt. Heute würde er mit dieser Sichtweise dem neu propagierten Leadership-Dogma des Cultural Fit voll entsprechen.
Immer schon haben erfolgreiche Unternehmen bei der Personalauswahl darauf geachtet, dass neu Eintretende auch den „passenden Stallgeruch“ mitbringen. Also das deren Werte und Einstellungen gut zur Unternehmenskultur passen. Das Fiting der Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wurde als wichtigstes Kriterium im Auswahlprozess definiert. Weil die Erfahrung gezeigt hat, dass Motivation, Fluktuation und nicht zuletzt auch der Unternehmenserfolg davon maßgeblich beeinflusst werden.
In den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrtausends konnte man oft den Eindruck gewinnen, dass im Recruiting vieler Unternehmen ganz andere Aspekte im Vordergrund standen. Im Kampf um die besten Köpfe zählten vor allem ein beeindruckender track record und eine rasche Verfügbarkeit. Ob sich die betreffende Person mit ihren Einstellungen längerfristig im Unternehmen wohl fühlen wird, dieser Gedanke war im schnelllebigen Business zweitrangig.
Diese kurzsichtige Personalauswahl-Strategie fällt vielen Unternehmen nun auf den Kopf. Denn immer mehr Mitarbeitende stellen sich die Frage nach Sinn, Handlungsspielraum und Work-Life-Balance im Job. Das Blatt hat sich gewendet: Nicht die Unternehmen überprüfen heute das Cultural Fit, sondern die Mitarbeitenden. Firmen, die für ihr Personal keine attraktive Unternehmenskultur parat haben, werden zunehmend gemieden. Und wer kein Personal mehr findet & bindet, wird mittelfristig auch nicht überlebensfähig sein.
Fazit
Die aktuellen politischen Krisen führen dazu, dass die Arbeitswelt wie mit Scheinwerfern ausgeleuchtet wird. Vieles, was schon lange nicht mehr gepasst hat, wird nun sichtbar. Und immer mehr Mitarbeitende ziehen die entsprechenden Konsequenzen.
Das aufgesetzte Employer Branding der letzten Jahre hat ausgedient. Viele Arbeitgeber unterscheiden sich bei den Stellenanzeigen kaum noch voneinander: die gleichen hohlen Phrasen, die gleichen zugekauften Bilder in den Inseraten und den teuren Hochglanz-Broschüren. Die Generationen Y + Z lassen sich davon nicht mehr blenden.
Nicht mehr das, was erzählt wird, sichert heute die Loyalität der Mitarbeitenden, sondern nur wenn das Erzählte auch erlebt wird, bleiben diese dem Unternehmen auch länger verbunden.
„Stellen Sie keinen Mitarbeiter ein, der nur für Geld arbeitet.
Sondern jemand, der seine Arbeit liebt.“
(Henry David Thoreau, Schriftsteller)
Retention | Warum Mitarbeiterbindung beim Recruiting beginnt