Wenn Unternehmen einen Transformationsprozess durchlaufen, resultieren hieraus spezielle Anforderungen an ihre Führungskräfte. Das Unternehmen muss – anders als bei vielen Change-Projekten – nicht nur punktuelle Veränderungen, sondern einen Musterwechsel vollziehen.
Das heißt, es muss sein gesamtes bisheriges Denken und Tun hinterfragen und ein neues Selbstverständnis entwickeln, was auch neue Kompetenzen sowie Denk- und Handlungsmuster bei den Prozessbeteiligten erfordert.
Gast-Autor: Dr. Georg Kraus
Reife Führungspersönlichkeiten sind gefragt
Ein Transformationsprozess betrifft also stets außer der Strategie und Struktur auch die Kultur eines Unternehmens. Und seine Mitarbeitenden? Sie müssen sich und ihr Verhalten neu definieren und zumindest bezüglich ihrer Funktion in der Organisation eine neue Identität entwickeln.
Transformationsprozesse sind zudem schwierig zu planen und zu steuern, da bei ihnen stets
- viele Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zu berücksichtigen sind und
- das angestrebte Endziel unter Vorbehalt steht – unter anderem, weil das Gesamtprojekt sich in einem dynamischen Umfeld vollzieht.
Die Transformationsverantwortlichen müssen bei der Projektplanung und -steuerung sehr agil agieren. Entsprechend groß sollte neben ihrer Change- auch ihre Projekt-Management-Kompetenz sein. Außerdem sollten sie reife Führungspersönlichkeiten sein, denen die Betroffenen folgen, weil sie ihnen aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und Persönlichkeit vertrauen.
Die fünf Kennzeichen „transformationaler Leader“
Führungspersönlichkeiten bzw. transformationale Leader, die
- außer ihre Mitarbeitenden auch ihre sonstigen Geschäftsbeziehungen für das Veränderungsvorhaben motivieren,
- diese beim Beschreiten neuer Wege inspirieren und
- die für den Erfolg des Projekts nötige Veränderungsenergie erzeugen,
zeichnen sich in der Regel durch die nachfolgend beschriebenen Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten aus.
- Kreativität – „out of the box“ denken
Kreativ sein heißt in diesem Kontext vor allem „out of the box“ denken; sich bei der Suche nach neuen Lösungen nicht durch Konventionen einschränken zu lassen. Menschen neigen dazu, ausgetretene Pfade zu beschreiten.
Transformationale Führungskräfte verfügen über die Fähigkeit, querzudenken. Sie überraschen ihr Team und ihre Geschäftsbeziehungen immer wieder, denn sie fragen sich regelmäßig:
- Wo denken und handeln wir zu traditionell?
- Wie muss künftig unser Businessmodell ausschauen, um wettbewerbsfähig zu sein?
- Inwiefern sollten wir unsere Organisation neu denken, um noch leistungsfähiger zu werden?
Sie sind experimentierfreudig und sehen tendenziell stets mehr Chancen als Risiken. Sie betrachten das Business als eine Art Spiel, bei dem es darum geht, mit Intelligenz und guten Ideen erfolgreich zu sein.
- Interaktivität – mit den Netzwerkbeziehungen in einem regen Austausch stehen
Transformationale Führungskräfte suchen den Kontakt und Austausch mit Menschen. Sie vermitteln ihrem Umfeld zudem ein Gefühl der Leichtigkeit. Sie gewinnen Menschen: seien dies Mitarbeitende, Team, Kundschaft, Liefernde oder externe Dienstleistende. Sie überraschen und begeistern immer wieder mit neuen Ideen – auch weil sie die Bedürfnisse ihres jeweiligen Gegenübers erspüren.
Sie ziehen sich eher selten in ihre Büros zurück. Stattdessen suchen sie bereichs- und funktionsübergreifend den Austausch, denn sie wissen: Um Menschen mitzunehmen, muss ich mit ihnen kommunizieren und eine Vertrauensbeziehung aufbauen. Deshalb investieren sie Zeit und Energie in diese Aufgabe.
- Eine Vision – ein attraktives Zielbild vor Augen haben
Mit Menschen im Gespräch zu sein allein reicht jedoch nicht. Der Austausch sollte auch eine Richtung haben. Deshalb brauchen Führungskräfte eine Vision, um sich nicht im Tagesgeschäft zu verlieren.
Transformationale Führungskräfte wissen, wie wichtig es ist, Menschen durch eine gemeinsame Vision in Bewegung zu versetzen – eine Vision, die auch sie selbst als sinnstiftend erfahren. Es gibt kaum etwas Attraktiveres und Aktivierenderes als eine Vision, die über das rein betriebswirtschaftliche, geschäftliche Ziel hinausweist. Sie ermöglicht es, das Team auf eine gemeinsame Reise mitzunehmen.
Jede Vision beinhaltet jedoch die Gefahr, dass es nicht funktioniert. Deshalb backen viele Führungskräfte lieber kleine Brötchen. Genau hier liegt die Stärke einer transformationalen Führungskraft: Sie hat den Mut, neue, auch risikobehaftete Dinge anzugehen und beflügelt hiermit ihr Umfeld.
- Empowerment – die Selbstwirksamkeit erhöhen
Damit ihre Vision Realität wird, brauchen Führungskräfte ein Team, das ihre Vision teilt und diese ebenso verwirklichen möchte wie sie selbst. Mit Mitlaufenden allein gelingt ihnen dies nicht. Also gilt es Menschen als Mitstreitende zu gewinnen, die etwas gestalten und selbstwirksam sein möchten.
Transformationale Führungskräfte scharen solche Menschen um sich und bieten ihnen den nötigen Freiraum. Sie vermitteln ihren Mitstreitenden das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung. Die hierarchischen Verhältnisse spielen in der alltäglichen Zusammenarbeit fast keine Rolle; es geht immer um die gemeinsame Mission. Zudem vermitteln sie ihrem Team das Gefühl
- „Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft“ und
- „Bei Misserfolgen stehe ich vor euch und bei einem Erfolg hinter euch.“
- Passion – mit dem eigenen Feuer die Netzwerkbeziehungen entflammen
Im Kontakt mit transformationalen Führungskräften spürt man die Leidenschaft, mit der sie sich „ihrer Sache“ verschrieben haben und ihre Lust diesbezüglich etwas zu bewirken. So lässt sich ihr Umfeld von ihnen auch inspirieren und infizieren. Letztlich folgen Menschen stets Menschen.
Ist die Führungspersönlichkeit hingegen nur halb bei der Sache, verhalten sich auch seine Mitarbeitenden entsprechend: Sie betrachten das Projekt nur als eine Aufgabe und erledigen ihren „Job“. Anders ist es, wenn sie spüren: Unser Teamleader brennt hierfür mit Haut und Haaren. Dies wirkt ansteckend, und man kann sich dieser Energie kaum entziehen.
Auch transformationale Leader haben Schwächen
Eine transformationale Führungskraft ist jemand, der mutig neue Wege geht und andere Menschen auf diese Reise mitnimmt. Das klingt nach der idealen Führungskraft! Die Praxis zeigt jedoch: Oft fällt es Führungskräften, die andere Menschen leicht inspirieren und mit ihnen Dinge bewegen können, schwer, einen Zustand zu stabilisieren und in Effizienz zu bringen. Dies erfordert speziell im Management-Bereich in der Regel Fähigkeiten, die nicht zu den expliziten Stärken transformationaler Leader zählen.
Transformationale Führungskräfte sind tendenziell zwar mutiger als ihre Kollegenschaft, deren Stärken primär im Managementbereich liegen. Sie unterschätzen zuweilen aber die mit Changevorhaben verbundenen Risiken und stürzen ihre Organisationen ins Verderben.
Jede Organisation benötigt sowohl Führungskräfte, die Veränderungen vorantreiben, als auch solche, die für die nötige Stabilität sorgen. Deshalb sind transformationale Führungskräfte oft nur befristet in ihrer Funktion. Sie treiben eine Veränderung voran und übergeben dann den Staffelstab.
Wenn tiefgreifende Veränderungen in ihrem Unternehmen oder Bereich anstehen, sollten sich Führungskräfte auch selbst fragen:
- Bin ich eher ein transformationaler Leader oder für das Management?
- Bin ich eher eine treibende Kraft der Veränderung oder eine stabilisierende Kraft?
Unternehmen brauchen Transformation und Stabilisierung
Letztlich braucht jedes Unternehmen Transformatoren und Stabilisatoren auf der Führungsebene, die die Fähigkeiten und Eigenschaften, die diese beiden Rollen erfordern, mehr oder minder in sich vereinen und deshalb im Führungsalltag die erforderliche Verhaltensflexibilität zeigen.
Dies ist bei den meisten Führungskräften der Fall, auch wenn ihre Stärken mal eher im Bereich Transformation und mal eher im Bereich Stabilisierung liegen.
Wenn es um das Thema „transformationale Führung“ geht, lauten die Kernfragen meist:
- Haben die Führungskräfte in unserer Organisation aufgrund ihres Persönlichkeits- und Stärkenprofils die richtigen Führungspositionen inne? Und:
- Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sollten wir aufgrund der strategischen Ziele, die wir erreichen möchten, bei unserem Führungsnachwuchs verstärkt fördern?
Gast-Autor
Dr. Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal. Er ist unter anderem Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-Provence, der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal. Auf LinkedIn bietet er einen kostenfreien Online-Kurs „Transformationale Führung“ an.