Letztes Jahr lernte ich bei einem Lehrgang Eva-Maria Riess von der Integrationswerkstatt Wien kennen, einer Kultur- und Bildungsstätte zur Förderung und Vermittlung von Diversität, um mir die Grundlagen von “Diversity Management” und “Gender Mainstreaming” zu vermitteln.
Gast-Autorin: Gabriele Preßlinger-Bukovica
Umso mehr freut es mich, Eva-Maria Riess zu einem Interview wieder zu treffen, um mit ihr über Chancengerechtigkeit zu sprechen.
Interview-Partnerin
Eva Maria Riess, MA studierte Psychologie an der University of Baltimore und interkulturelle Kompetenzen an der Donau Universität Krems. Sie ist Lebens- und Sozialberaterin sowie Trainerin der Erwachsenenbildung im Integrations- und Migrationsbereich. Sie gründete 2016 das Projekt Integrationswerkstatt und ist seither für die Leitung zuständig.
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Was ist deine Geschichte?
Woher kommt dein Engagement für kulturelle und soziale Vielfalt?
Das wurde mir wohl in die Wiege gelegt, denn ich habe schon sehr früh gefühlt: da muss es noch mehr geben, etwas fehlt. Ich bin in einem kleinen Dorf in Niederösterreich aufgewachsen und irgendetwas war dort anders, ich konnte es nur nicht benennen.
Nach der Matura bin ich 1994 erst nach Kanada, dann in die USA gegangen, um Psychologie zu studieren. In einem Community College habe ich begonnen, Englisch zu lernen. Wir waren dort an die 50 Nationen und ich habe mich sofort so wohl gefühlt, ein Teil sichtbarer Vielfalt zu sein. Das war ein Schlüsselmoment. Ich erinnere mich, wir haben uns über Bräuche ausgetauscht, wie unterschiedliche Weihnachtsrituale oder dass es bei uns einen Nikolausabend gibt. Es hat mich interessiert, wie unterschiedliche Menschen das Leben bewältigen und war dann auch schnell in Community Projekten engagiert.
Mit meiner ersten Psychologiestunde – bei Professor Hill, der noch bei Viktor Frankl gelernt hat – habe ich einen Zugang gefunden, wie man die Welt verstehen kann. Die Ausbildung war ausschlaggebend für meinen weiteren Weg.
Zurück in Österreich habe ich an der Donau Uni Krems interkulturelle Kompetenzen studiert und in meiner Masterarbeit über Studierende geschrieben, die nach Österreich kommen. Ich habe zu dem Zeitpunkt schon mit unterschiedlichen Zielgruppen gearbeitet und war auch mit der Integration geflüchteter Menschen befasst.
2015 habe ich eine Ausbildung zum Integrationscoach konzipiert und war überzeugt, es braucht auch Jugendcoaches sowie Trainer und Trainerinnen mit Diversity-Kompetenzen. So entstand die Integrationswerkstatt.
Diversity-Kompetenzen
Welche Diversity-Kompetenzen und praktischen Fähigkeiten können sich berufstätige Menschen aneignen?
Systematische und laufende Selbstreflexion
Diversity-Kompetenz beginnt damit, “unconscious bias” bei sich zu bemerken. Das sind unbewusste Vorurteile, denen wir alle unterliegen – unsere Gehirne reproduzieren automatisch stereotype Bilder. Sie beeinflussen uns maßgeblich im beruflich-professionellen Kontext. Indem wir Menschen aufgrund bestimmter Merkmale schnell und automatisch in soziale Gruppen einordnen, schreiben wir ihnen unbewusst Eigenschaften zu, die mit der jeweiligen Gruppe assoziiert werden.
Wenn wir das bemerken, sollten wir einen Schritt zurückgehen und eine beobachtende Rolle einnehmen. Was sehe ich denn? Was ist da? Was denke ich? In einer Gruppe ist so eine Auseinandersetzung noch wirkungsvoller, weil das Bild größer wird. Wir assoziieren vielleicht unterschiedlich. Austausch ist ein wichtiger Teil, um Vielfalt zu erkennen und zu nutzen.
Unterschiede schätzen und als gleichwertig sehen
Es gibt beim Thema Vielfalt ein großes Paradox. Menschen können ihr Alter, ethnische Herkunft, Behinderung, Geschlecht und sexuelle Orientierung nicht ändern – es sind fixe, unveränderliche Kategorien. Aufgrund dieser Eigenschaften passieren aber nach wie vor noch immer die meisten Diskriminierungen. Wir brauchen daher einige Strategien, um dieser Dynamik entgegenzuwirken.
Teilhabe ermöglichen
Wenn wir Unterschiede wahrnehmen und anerkennen, sehen wir auch recht schnell, wo es überall Barrieren gibt – und welche. Damit können Organisationen strukturiert über deren Beseitigung nachdenken. Was brauchen Menschen, um ihre Arbeit bei uns zu erledigen? Welche Barrieren haben Menschen mit Hörbehinderungen, welche Barrieren haben neurodiverse Menschen zu überwinden? Was können wir tun, um Menschen berufliche Teilhabe zu ermöglichen?
Inklusive Kommunikation und Orientierungshilfe
Hier gilt es einerseits im Gespräch mit betroffenen Personen sensibel zu sein, zuzuhören und zu beobachten. Gleichzeitig kann ich mir Community-Vertreter “on board” holen. Ein best practice Beispiel ist My Ability. Ein social enterprise, das einerseits eine Jobplattform für Menschen mit Behinderung errichtet hat und zudem durch seine Brückenfunktion zu Unternehmen viel Aufklärung rund um das Thema Behinderung in der Wirtschaft schafft.
Theoretisches Wissen zu Diversität
Wenn wir über Vielfalt sprechen, braucht es einen Blick auf 3 Ebenen: die individuelle, die strukturelle und die rechtliche Ebene. Meist diskutieren wir nämlich auf unterschiedlichen Ebenen. Das führt zu Missverständnissen und oft auch zu Streitigkeiten. Wenn wir wissen, auf welcher Ebene wir diskutieren, kommen wir viel leichter auf gemeinsame Lösungen.
Chancengleichheit vs. Chancengerechtigkeit
Geht Chancengerechtigkeit für dich Hand in Hand mit Diversität?
Ja, weil Diversity das Grundverständnis von Chancengerechtigkeit unterstützt. Das Bewusstsein, dass wir vielfältig sind, sollte die Grundlage für Chancengerechtigkeit sein.
Wo bleibt die Chancengleichheit in der Auseinandersetzung mit Diversität?
Es geht nicht darum, dass wir alle dasselbe bekommen – dafür steht “equality”, Chancengleichheit. Sondern es geht darum, dass alle die Chance haben sollen, teilzuhaben. Das wäre “equity”, Chancengerechtigkeit. Ich gebe ein Beispiel: Alle Kinder in Österreich können in die Schule gehen. Da haben wir Chancengleichheit. Doch wir haben keine Chancengerechtigkeit – weil nicht daran gearbeitet wird, dass Kinder in ihren Unterschieden unterstützt werden. Es sollen 25 Schulkinder in derselben Zeit dasselbe lernen. Es fehlt an individuellen Unterstützungsmaßnahmen in der Schule, um allen Kindern die bestmögliche Bildung zukommen zu lassen. Ein Projekt als Beispiel für Chancengerechtigkeit, das mir in diesem Zusammenhang einfällt, ist Jugendcoaching.
Diversität am Arbeitsplatz
Lass uns näher auf die praktizierte Vielfalt in der Arbeitswelt schauen. Wo beobachtest du Fortschritte?
Die Bereitschaft, sich mit Vielfalt auseinanderzusetzen, nimmt zu.
Dass Unternehmen Diversity Kompetenz aufbauen, sich Wissen aneignen und damit intern sensibilisieren möchten, zeigt sich schon ein Stück in der Organisationsstruktur. Es werden Anlaufstellen und neue Rollen wie z.B. “Diversity- Beauftragte” etabliert, die Programme und Initiativen zur Förderung von Vielfalt und Inklusion umsetzen.
Das Thema Gender Pay Gap findet mehr Beachtung und wird nicht nur mehr als Anliegen, sondern zunehmend als dringendes Problem wahrgenommen, das angegangen werden muss. Es gibt hörbare Stimmen in Organisationen, es gibt Aktivismus und verstärkte Medienberichterstattung, was zu erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit geführt hat. Das Thema Gender Pay Gap hat mehr Anteil in Diskussionen über Gleichstellung und soziale Gerechtigkeit gewonnen.
Auch die Rechtslage verbessert sich.
Ich zitiere hier am liebsten direkt die Gleichbehandlungsanwaltschaft: Im Jahr 2019 wurde die sogenannte „Vereinbarkeitsrichtlinie“ beschlossen. Sie hat zum Ziel, Arbeitsmarktchancen für Menschen, die Kinder und/oder Angehörige betreuen, zu verbessern und ihnen mehr Rechte einzuräumen.
Für Österreich ist vor allem neu, dass Arbeitnehmende von Arbeitgebenden schriftliche Begründungen dafür verlangen können, wenn Anträge auf Teilzeit abgelehnt werden (sei es zur Pflege oder in Bezug auf Rechte nach dem Mutterschutz- oder Väterkarenzgesetz). Ebenso sind Kündigungen, die im Zusammenhang mit Pflegefreistellungen oder nach Ende der Elternteilzeit ausgesprochen werden, auf Verlangen schriftlich zu begründen.
Welche Aspekte in der Diskussion um Diversität am Arbeitsplatz brauchen aus deiner Sicht mehr Aufmerksamkeit?
Generation Z: Ein ganz aktueller Aspekt. Wenn man bedenkt, dass dieser Generation Vielfalt wichtig ist, wären Unternehmen gut beraten, jetzt darauf Augenmerk zu legen, wie sie künftige Arbeitskräfte anziehen und behalten können. Die Generation Z sieht Chancengerechtigkeit in der Arbeitswelt als etwas Selbstverständliches an, weil Diversität in ihrem Wertesystem verankert ist.
Barrierefreie Karriere: Wir sehen nach wie vor die gläserne Decke als Hürde, die Menschen berufliche Erfolge schwer macht. Ich sage Menschen, weil ich die gläserne Decke im breiteren Kontext anspreche. Es geht nicht mehr nur darum, Frauen in Führungspositionen zu bringen – Stichwort Frauenquote – sondern so gut wie möglich alle Arten von Diskriminierung zu beseitigen. Es wäre für mich ein Feiertag, wenn sichtbare Vielfalt in all ihren Dimensionen endlich auch oben ankommen würde.
Zögern Organisationen, Vielfalt in Teams zu nutzen? Diverse Teams sind doch augenscheinlich produktiver und effizienter.
Nicht von Beginn an. Diverse Teams bestehen zum Beispiel aus Menschen aus verschiedenen Kulturen. Allgemein gesagt, sie bestehen aus Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten. Treffen diese zusammen und sollen gemeinsam Aufgaben bewältigen und vielleicht verheißungsvolle Spitzenleistungen bringen, gibt es da in der Realität schon Herausforderungen. Zum Beispiel ein unterschiedliches Verständnis von Pünktlichkeit. Oder von Feedbackkultur. Oder Barrieren, die im ersten Moment nicht offensichtlich sind.
Hier sind wir wieder bei der Chancengerechtigkeit, die es zu fördern gilt. Es braucht zuallererst die Schaffung von Rahmenbedingungen, die von allen Beteiligten verstanden werden und Teilhabemöglichkeit für alle herstellt, bevor eine Aufgabe oder ein Projekt miteinander begonnen wird. Diese Zeit muss in Kauf genommen werden, damit Vielfalt in Teams auch als Chance genutzt werden kann.
Wo gibt es Handlungsbedarf?
Bemerkst du auch abseits der Arbeitswelt eine Öffnung? Wo siehst du Handlungsbedarf?
Ich bemerke zunehmend Diskurse zum Thema Gender Identität. Das geht breiter an die Masse, wahrscheinlich wegen bzw. seit Alex Jürgen (Anmerkung: Jürgen war durch eine 2018 stattgegebene Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof die erste Person in Österreich, der der Geschlechtseintrag “Divers” im Zentralen Personenstandsregister eingetragen wurde.)
Handlungsbedarf sehe ich beim Zugang zu Ressourcen, denn Teilhabe ist noch nicht für alle überall möglich. Was meine ich damit? Ich zeige dazu erst einmal die sogenannten “Big 6”:
Und möchte aufmerksam machen: Diese Dimensionen gelten in Österreich nur am Arbeitsplatz als rechtlich geschützt. Das heißt Diskriminierung am Wohnungsmarkt aufgrund von sexueller Orientierung kann stattfinden, ohne dagegen rechtlich vorgehen zu können.
Zu tun gibt es auch im Bildungsbereich. Wir sind weit weg von einem inklusiven Bildungssystem, zu dem sich die Republik Österreich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2008 verpflichtet hat. Zu diesem Ergebnis kamen UN-Kommissionen bei den Staatenprüfungen 2013 und 2023. Österreich wurde eine Rüge mit kritischen Handlungsempfehlungen ausgesprochen. In den Gutachten ist sogar die Rede von Rückschritt bei inklusiver Bildung und Barrierefreiheit und dass Lebensrealitäten von Frauen mit Behinderung ignoriert würden.