Als HR-Verantwortliche stehen wir nicht nur vor der Herausforderung, KI als nützliches Werkzeug zu verstehen und zu nutzen. Vielmehr sind wir gefordert zu erkennen, wie die KI Transformation unsere Organisation, Kultur und Arbeit verändert – und darauf gezielt zu reagieren.
Gast-Autorin: Sonja Strohmer
Als mir bei dem Gespräch mit einem KI-Unternehmer im Frühling 2023 dämmerte, welchen gewaltigen Gestaltungsauftrag uns der Einzug von Künstlicher Intelligenz aufgibt, hat es mich erst mal auf den Hosenboden gesetzt. Ich realisierte nämlich, dass es dabei nicht nur um naheliegende Aufgaben wie Use Cases identifizieren, Tools einführen und Mitarbeitende mit Trainings und Change-Begleitung unterstützen geht.
Vielmehr stehen wir vor der Auseinandersetzung damit, wie KI die Arbeit in unseren Organisationen grundlegend verändert – und sind gefordert, hier Leitplanken zu setzen und zu steuern.
Eine neue Dimension von Change
In der HR sind wir hohen Zeitdruck und die Bewältigung großer Aufgaben, wie dem Umgang mit der demografischen Entwicklungen, Restrukturierungen, neuer Regulierungen und Change-Projekten, gewohnt. Doch nach über 50 Interviews und Gesprächen mit KI-Unternehmerinnen und Unternehmern, Geschäftsleitungen, HR-Verantwortlichen, Philosophinnen und Philosophen und Forschenden zeigt sich für mich, dass die KI Transformation aber eine ganz neue Dimension von Wandel darstellt.
Meine gewonnenen und hier vermittelten Einschätzungen sind streitbare Thesen – ich werde selbst immer skeptisch, wenn mir jemand erklären will, wie es mit der KI wirklich ist. Gegenargumente, Beispiele und Studien sind mehr als willkommen.
Ein Paradox: KI nimmt uns Aufgaben ab und die Arbeit wird intensiver
Hatten Sie schon Ihren Ironman-Moment? Als mir ChatGTP vor einem Jahr in kürzester Zeit eine Schnitzeljagd für eine Familienfeier zusammengestellt hat, war es bei mir so weit. Ich war schwer beeindruckt und fühlte mich sehr „empowered“. Es war fast wie Fliegen im Ironman-Kostüm.
Gleichzeitig verstand ich jetzt die Sorge vieler meiner Interviewpartner und Interviewpartnerinnen, dass unsere Arbeit deutlich intensiver werden könnte. Schließlich schlüpfe nicht nur ich in den Ironman-Anzug und fliege mit Hochgeschwindigkeit, sondern fast alle sind nicht mehr in Gehgeschwindigkeit unterwegs. Damit steigen auch die Erwartungen an mein Arbeitstempo durch Vorgesetzte oder Auftraggebende.
Der Wegfall einfacher Tätigkeit ermöglicht es mir, mehr komplexe Aufgaben zu bewältigen oder mich früher in den Feierabend zu verabschieden. Für das zweite Szenario fehlt es beim Blick in die Vergangenheit an Evidenz.
Hinweise auf die erwartete Intensivierung zeigt eine Studie von Upwork: Von 2.500 Beschäftigten aus den USA, Großbritannien, Australien und Kanada sind fast 50 % unsicher, wie sie die gestiegene Produktivitätserwartung erfüllen sollen, und 77 % berichten, dass ihr Arbeitspensum nach KI-Investitionen weiter zunahm.
Um nicht großflächig in Überlastung zu geraten, braucht es aus meiner Sicht strukturelle Anstrengungen, Bewusstseinsarbeit, Reflexion und klare Gegenstrategien.
Die künftigen 3 Key Skills beherrschen wir so schlecht wie nie zuvor
Mit fortschreitender KI-Transformation werden Kernkompetenzen wie kritische Urteilsfähigkeit, Selbstfürsorge und Unablenkbarkeit wichtiger denn je. Hier sind einige Hinweise darauf, dass wir darin jedoch stetig schlechter werden.
Kritische Urteilsfähigkeit: Laut einer Befragung des Times Education Supplement berichten 85 % der Lehrkräfte weltweit, dass Schulabsolvierende beim Eintritt in die Universität nicht über ausreichend kritische Denkfähigkeit verfügen.
Selbstfürsorge: Der Schlafmittelkonsum, ein Gradmesser emotionaler Gesundheit, steigt stetig. In den 1990ern konsumierten 2-3 % der amerikanischen Bevölkerung regelmäßig Schlafmittel; heute sind es fast 20 %. (National Center for Health Statistics, U.S. Centers for Disease Control and Prevention).
Unablenkbarkeit: Forschende zeigen: Die Aufmerksamkeitsspanne ist in 20 Jahren von 2,5 Minuten auf etwa 45 Sekunden gesunken. (Art Kramer, Psychologieprofessor, Northeastern University).
Die Stärkung dieser Key Skills ist ein wichtiges Handlungsfeld für HR und Management, das mindestens genauso viel Aufmerksamkeit braucht wie die technische KI-Transformation.
Schlafen wir am Steuer ein?
In einem Experiment mit der Boston Consulting Group untersuchten US-Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, wie sich ChatGPT-4 auf die Produktivität von Consultants auswirkt.
Jene, die KI nutzten, waren 12 % produktiver, 25 % schneller und lieferten 40 % bessere Ergebnisse. Doch die KI nivellierte auch die Fähigkeiten: Die mit dem schlechtesten Ausgangsniveau profitierten am meisten; die Besten profitierten kaum. Zugleich führten überzeugend klingende, falsche Antworten dazu, dass die Consultants bei bestimmten Fragen schlechter abschnitten, weil sie der KI blind vertrauten und am Steuer einschliefen.
Jene, die KI nutzten, waren 12 % produktiver, 25 % schneller und lieferten 40 % bessere Ergebnisse. Doch die KI nivellierte auch die Fähigkeiten: Die mit dem schlechtesten Ausgangsniveau profitierten am meisten; die Besten profitierten kaum. Zugleich führten überzeugend klingende, falsche Antworten dazu, dass die Consultants bei bestimmten Fragen schlechter abschnitten, weil sie der KI blind vertrauten und am Steuer einschliefen.
Ethan Mollick, Managementprofessor an der University of Pennsylvania und Autor des Buchs „Co-Intelligence: Livinig and Working with AI“ weist im HBR IdeaCast Podcast auf die Gefahr hin, dass wir durch den Einsatz von KI den Aufbau von Expertise in der Organisation zerstören.
Das ruft Personalentwickler und Personalentwicklerinnen auf den Plan.
Sind wir noch bereit, Grundlagen aufzubauen? Absolvieren wir künftig noch Kurse und lesen ganze Bücher oder fragen wir unsere KI-Assistenz einfach punktuell nach den Hilfestellungen, die wir gerade brauchen?
Wie bauen wir substantielles Grundlagenwissen, Erfahrungen und Beurteilungskompetenz auf, wenn das Junior-Level durch KI-Assistenz (scheinbar) übersprungen werden kann? Aus Anwaltskanzleien und Consultingunternehmen höre ich bereits, dass der künftige Einsatz von Trainees und Konzipientinnen und Konzipienten hinterfragt wird.
Wo sollten wir Produktivitätssprünge unbedingt realisieren und wo sabotieren wir uns durch vermeintliche Effizienzgewinne selbst?
Und jetzt?
Um KI gezielt und nachhaltig einzusetzen, brauchen wir klare Zielbilder. Auf dieser Basis können wir KI Policies, Werte und konkrete Pläne ableiten. Diese Arbeit verlangt Kooperation auf mehreren Ebenen:
- Intern: Hier braucht es crossfunktionale KI-Taskforces und ein echtes „Wir-Gefühl“, um ein Querschnittsthema wie KI gemeinsam anzupacken.
- Extern: Die KI-Zukunft fordert Cross-Company-Zusammenarbeit und Peer-Learning. Unternehmen, die bereits auf New Work, neue Führung, Partizipation und eine Vertrauenskultur setzen, haben hier einen Vorteil.
Im Work Smart Circle widmen wir uns im Rahmen des Fokusmoduls „KI und der Wandel in Organisationen“ der großen Aufgabe, die Potenziale von KI zu heben, um wettbewerbsfähig zu bleiben – und gleichzeitig menschenzentrierter denn je zu agieren. Es scheint wie eine Quadratur des Kreises – doch jede Menge HR-Verantwortliche krempeln die Ärmel bereits hoch.
Künstliche Intelligenz – Hatten Sie schon Ihren Ironman-Moment?
Copyright der Bilder jeweils: Sonja Strohmer via DALL E
Gast-Autorin
Dr. Sonja Strohmer ist Initiatorin und Community Lead des Work Smart Circle, Speaker, Uni-Lektorin und Austria’s Top 30 HR Influencer 2024. Sie fördert zukunftsfähige Arbeitskultur durch innovative Social Learning-Formate und wurde dafür für den Gründerpreis PHÖNIX, den Constantinus Award und den HR Award 2023 nominiert. Zuvor war sie Personalleiterin im IT-Consulting und der Industrie sowie als Arbeitsforscherin tätig.