Nur auf den ersten Blick gewinnt jenes Unternehmen die besten Mitarbeiter, das die höchsten Gehälter zahlt. Tatsächlich geht es vorrangig darum, die besten Geschichten zu erzählen, um die Gegenseite zu überzeugen. Arbeitgeber können die besten Mitarbeiter vom Markt anziehen, wenn sie es verstehen, ihre Stärken nicht nur über ihr Personalmarketing zu behaupten, sondern auch mit griffigen Beispielen zu untermauern.
Stellen Sie sich einen Personalberater vor, der Ihnen zwei Kandidaten präsentiert. Beide haben die gleiche fachliche Qualifikation. Jedoch versteht es der eine Bewerber, seine Kompetenz mit spannenden Beispielen zu verdeutlichen. Der andere besitzt die farblose Persönlichkeit einer grauen Maus. Der Ausgang dieses Rennens ist von vornherein klar: Am Ende bleibt immer jener Kandidat in Erinnerung, der vor dem geistigen Auge seines Gegenübers die stärksten Bilder entstehen lässt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit Firmenpräsentationen. Die meisten Vorträge von Unternehmensvertretern auf Karrieremessen und Hochschulen bleiben bei den Teilnehmern überhaupt nicht in Erinnerung. Meist handeln die langweiligen Powerpoint-Folien von bloßen Fakten über das Unternehmen, die niemanden wirklich interessieren. Ohne gute Geschichten bleiben beinahe alle Aktivitäten des Personalmarketings ohne positive Effekte.
Beweise statt Behauptungen
Wenn Mitarbeiter einen neuen Job suchen, strotzen ihre Anschreiben häufig vor Marketingsprech, der zehn Meilen gegen den Wind zu riechen ist. „Mein Englisch erfüllt die höchsten Ansprüche. Meine Kollegen schätzen mich als einen engagierten Teamplayer. Meine bisherigen Verkaufserfolge sprechen für sich.”
In ähnlichem Stil sind auch viele Auftritte von Unternehmen gehalten, die mit schickem Personalmarketing möglichst viele interessante Kandidaten anziehen wollen: „Bei uns steht der Mitarbeiter an erster Stelle. Unsere Mitarbeiterinnen sind unsere wichtigste Ressource. In unserem Unternehmen machen Sie eine tolle Karriere.”
Das alles sind Behauptungen, die stimmen können oder auch nicht. Die praktische Erfahrung auf beiden Seiten hat gezeigt, dass bei weitem nicht alles Gold ist, was glänzt. Ein Mitarbeiter machte sich einmal nach vielen Enttäuschungen mit seinem Arbeitgeber die Mühe zu recherchieren, an welcher Stelle das Wohl der Mitarbeiter in seinem Unternehmen lag. Er musste zynisch feststellen, dass es nicht an erster Stelle stand, sondern an Platz 87, weit hinter Kaffeekapseln, dem Honorar des Architekten für das neue Büro oder dem Dienstwagen des Vorstands.
Auch Unternehmen haben in zahllosen Interviews viele schmerzhafte Erfahrungen mit Kandidaten gemacht, die die selbst propagierten Ansprüche bei weitem nicht erfüllen konnten. Schon beim kurzen Nachbohren im persönlichen Gespräch mussten sie erkennen, dass die wunderschön aufbereiteten Bewerbungsunterlagen nur die glänzende Oberfläche einer Seifenblase, bestenfalls eines Luftballons waren.
Behauptungen sind schwach, Beweise hingegen sind stark. Natürlich sind Äußerlichkeiten auch wichtig, um dem Inhalt auf beiden Seiten einen wertvollen Auftritt zu verschaffen. Die Bewerbungsunterlagen der Kandidaten müssen ansprechend gestaltet und völlig fehlerfrei sein, die Karriereseiten auf der Homepage des Unternehmens übersichtlich und gut strukturiert, Kleidung und Aussehen beim Interview gepflegt und möglichst attraktiv. Doch am Schluss beeinflussen weniger die Äußerlichkeiten eine Karriereentscheidung, sondern die Substanz der Argumente.
Beweise sind Geschichten, Erlebnisse und Erfahrungen, die Sie mit anderen teilen, um einen bestimmten Eindruck zu verstärken und Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Expertenstatus vermitteln Sie insbesondere über Publikationen und Vortragstätigkeit, Verkaufserfolge mittels möglichst konkreter Zahlen und Beispielkunden, Ihr Netzwerk durch „Name Dropping” und Referenzen.
Wie Sie ein guter Geschichtenerzähler werden
Ein gutes Rezept, um im Job-Interview ein mitreißender Gesprächspartner zu sein, besteht darin, die eigenen Eigenschaften mit konkreten Beispielen zu belegen, indem Sie dazu eine kurze, spannende Geschichte aus Ihrer beruflichen Erfahrung erzählen.
Für jede Stelle gibt es ein ideales Persönlichkeitsprofil des Kandidaten. So steht etwa in einer Stellenanzeige: „Wir suchen eine innovative, flexible Persönlichkeit, die gut im Team arbeiten kann.“ Die Aufgabe eines Recruiters besteht unter anderem darin, die Kandidaten im Bewerbungsgespräch auf diese Kriterien hin abzuklopfen. Auf die Frage: „Sind Sie innovativ?“, gibt es also nur eine richtige Antwort: „Ja“.
Thema erledigt? Nein, denn jetzt folgt der große Auftritt des Storytellers. Dessen Kunst besteht darin, zwischen reflektorischer und episodischer Erzählweise hin- und herzuwechseln.
- Reflektorisch bedeutet: Sie schätzen sich selbst ein, z.B. Ich bin innovativ.
- Episodisch bedeutet: Sie erzählen zu dieser Eigenschaft eine Episode, also eine Geschichte, die Ihre eigene Einschätzung beweist und untermauert.
Reflektorische und episodische Fragen
Wie funktioniert das in der Praxis: Ein Recruiter stellt zu jeder Eigenschaft Fragen, mit denen er den Finger in die Wunde legt und tiefer bohrt, z.B. „Sie sind innovativ? Was war Ihre letzte große Innovation?“ Wer darauf keine gute Antwort hat, fällt beim Bewerbungsgespräch durch. Wer jedoch dazu eine gute Geschichte erzählen kann, bleibt positiv in Erinnerung und hat beste Chancen auf den Job.
Mit einer reflektorischen Antwort behaupten Sie etwas, mit einer episodischen Antwort beweisen Sie es. Beweise wirken unendlich viel stärker als Behauptungen. Indem Sie Geschichten vorbereiten, sammeln Sie Beweise, dass Sie der perfekte Kandidat sind. Wie in der Verhandlung in einem amerikanischen Gerichtssaal legen Sie nun einen Beweis nach dem anderen vor, um die Geschworenen von der Richtigkeit Ihrer Argumente zu überzeugen.
Geschichtenerzähler sind weder Lügenbarone noch Märchenonkel. Es sind Menschen, die gelernt haben, dass Geschichten nichts anderes als die hochwertige Verpackung für ihre Fähigkeiten und Erfolge sind. Gute Geschichten können Wissen und Fähigkeiten nicht ersetzen, aber sie können sie aufwerten.
Ein Unternehmen hatte es sich zum Ziel gesetzt, jungen Mitarbeitern nach der Lehrausbildung die Karrierechancen zu vermitteln, die sie bei entsprechender Leistung in der Firma haben könnten. Statt wie die Konkurrenz auf markige Sprüche oder peinliche Karrierevideos zu setzen, genügte ihnen ein einziger Satz, den sie als Beweis ihrer These gebetsmühlenartig auf jeder Veranstaltung mit ihren Lehrlingen wiederholten und damit große Erfolge ihres Programms erzielten: „Unser Generaldirektor hat vor 40 Jahren auch als Lehrling bei uns begonnen.”
Storytelling im Recruiting