Raum schaffen für betriebliche Innovation
Presencing stellt bereits gemachte Erfahrungen nicht nur in den Schatten, sondern sieht sie sogar als hinderlich an. In einer sich schnell ändernden Umwelt können Innovationen nicht auf altbekannten und gewohnten Denkweisen basieren. Eva Selan geht dem Konzept von Otto Scharmer auf den Grund.
Presencing als Leadership-Kompetenz ist in den USA bereits bekannt, in Österreich ist es noch nicht etabliert. Die Neugierde allerdings ist auch in Österreich bereits zu bemerken – am 10. März 2011 findet eine ganztägige Veranstaltung mit Otto Scharmer statt (veranstaltet vom Solution Management Center, Foto rechts) und die Zahl der angemeldeten Teilnehmer bestätigt das große Interesse am Thema.
Ich bin gespannt, ob die Zeit bereits reif ist für Presencing oder ob es nur eines von vielen Konzepten bleiben wird, ohne je großes Aufsehen zu erregen? Worum geht es eigentlich, was steckt dahinter?
Der U-Prozess des Presencings versetzt die Person – oder die Gruppe – auf einen anderen inneren Platz, von dem aus sie agiert. Wenn das passiert, operieren die Personen von einem Standort oder besser Standpunkt aus, der in der Zukunft liegt. Dieser künftige Punkt des Geschehens wird in die Gegenwart geholt.
Das ist die Essenz des Führens, meint Dr. Otto Scharmer, der mit seinen Kollegen am MIT (Massachusets Institute of Technology) die Theorie des Presencings entwickelte. Darin verbindet er die Gegenwart – Presence – mit dem Gespür, dem Fühlen – Sensing. Daraus entsteht die Wortkombination „Presencing“.
PRESENCe + sensING = PRESENCING
Presencing versus bloße Kreativität
Ein Seminarveranstalter beschrieb den Inhalt von Presencing-Tagen: „Sie erfahren Ihre eigenen Quellen von Kreativität und unternehmerischem Wollen und bekommen Werkzeuge zur Lenkung von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Kommunikation in Führungsteams. Sie erhalten neue Impulse zu den Themen Kreativität, betriebliche Innovation, Spiritualität und Leadership.“ Das ist an sich nichts Neues, ein schlichtes Kreativitätsseminar scheint den selben Zweck zu erfüllen. Was ist das Neue, das Außergewöhnliche an Presencing?
Scharmer sagt, der Unterschied zwischen Presencing und simpler kreativer Leadership bestehe darin, dass üblicherweise Kreativität im Arbeitsumfeld wenig Neues ergibt, da sie nur auf Bekanntem aufbaut, ohne den Blickwinkel zu verändern. Letztendlich wird normalerweise das bereits Vorhandene bestätigt, es besteht wenig Platz für wirklich Neues.
Ein tatsächliches Agieren im U-Prozess von Presencing setzt eine neue Technik voraus. Diese basiert auf sieben essenziellen Leadership-Fähigkeiten, die von einer Kerngruppe kultiviert werden müssen. Doch dazu später.
Hintergrund
Unser Denken und Lernen ist darauf geprägt, Unbekanntes aufzunehmen, mit alten Denkmustern/Bildern/Erfahrungen zu verknüpfen und in diese eigenen Konzepte zu integrieren. So gehen neue Eindrücke immer durch den Filter der eigenen Wirklichkeitsauffassung. Diese wird bestätigt oder auch korrigiert bzw. ergänzt. Das Abgleichen neuer Situationen mit alten Erfahrungen ist sehr effizient, doch nicht brauchbar wenn es um Inhalte geht, die in der Vergangenheit nicht existierten, da eben auf nichts Adäquates aufgebaut werden kann.
Daher ist eine weitere Quelle des Lernens notwendig und diese stellt das Presencing dar. Es ist kein Managementsystem, sondern ein Skill, eine Fertigkeit. Die Führungskraft muss die Aufmerksamkeit lenken, die Beobachtung ändern und sich mit allen Sinnen auf dieses Konzept einlassen, um Innovationen entstehen zu lassen. Konkret arbeitet Scharmer mit einem U-Modell, das grob folgenden Weg zeichnet: Die eigenen blinden Flecke werden erkannt, bearbeitet und somit wird der Weg bereitet, die eigenen Grenzen zu überschreiten. Die – angelernten und kulturell bedingten – Verhaltensmuster, die das Denken in Bahnen lenken, werden abgelegt. Es findet eine Öffnung auf die umgebende Umwelt statt.
Dieses Verbinden aus Wahrnehmen und Erkunden führt zu Innovation, Intuition, Gestaltungswillen und neuen Denkmustern. Innovative Lösungsansätze und Szenarien werden entwickelt. Die Grenzen des klassischen „Umsetzungshandelns“ werden aufgeweicht, die schnelle Umsetzung der Ideen in Prototypen und das direkte Einfließen in Produkte und Dienstleistungen stehen im Mittelpunkt.
Das grundsätzliche Ziel von Presencing ist,
- Räume für neue Gedanken entstehen zu lassen und die Grenzen des Denkens aufzuweichen,
- unterschiedliche Denkhaltungen, Perspektiven und Positionen einzunehmen, um den Blickwinkel zu verändern,
- Probleme innerhalb eines Teams zu bearbeiten. Gemeinsam werden Innovationen entwickelt und umgesetzt, die Problemlösungs- und Wahrnehmungsfähigkeit wird gelernt.
Theorie U
Die Theorie U behandelt sieben Schritte, die meist von einer Kerngruppe durchlaufen werden:
1. Download bekannter Verhaltensweisen, Raum zum Mitgestalten
Das Wesentliche ist, den Beteiligten nicht bereits den/das fertige/n Prozess/Ablauf/Produkt in die Hand zu geben, sondern gemeinsam an der Fertigstellung zu arbeiten. Üblicherweise funktionieren Meetings anders herum: Das fertige Produkt wird vorgestellt und die einzelnen Tätigkeitsfelder und Zuständigkeiten werden aufgeteilt. Die Beteiligten werden vor vollendete Tatsachen gestellt, mit wenig bis keiner Mitsprachemöglichkeit.
Der U-Prozess schlägt vor, ein noch unfertiges Produkt vorzugeben und die Teilschritte zur Endlösung der Gruppe zu überlassen. Die Führungskraft ist in den nun entstehenden Prozess wohl einbezogen und kann auch maßgeblich den Ton angeben, doch das Mitwirken der Gruppe ist entscheidend. Das bedeutet möglicherweise einen höheren Aufwand und geringere Einflussnahme durch die Führungskraft, doch genau darin liegt der Sinn. Wichtig in dieser Phase ist vor allem viel Raum für das Mitwirken anderer und auch das Hineinhören in sich selbst.
Dieses Hineinhören ist wichtig, da Organisationen meist auf Routine ausgerichtet sind und sehr spezialisiert immer dasselbe produzieren. Neues entsteht aus dem Alten, genau wie eben neue Einflüsse durch den Filter des bereits Bekannten fließen. Kleine Widersprüche werden erklärt oder als nichtig eingestuft.
Die eigenen Kriterien stehen im Mittelpunkt. Das kann allerdings nicht zu Innovation führen. Scharmer sagt klar, dass für Innovationsprozesse reines Downloading nicht ausreicht.
Wenn Widersprüche entstehen – Neues versus alte Denkmuster – muss die Aufmerksamkeit umorientiert werden.
2. Seeing – sehen mit anderen Augen
Eine offene Haltung frei von Vorurteilen ist nun gefragt. Das bedeutet auch, sich von alten Denkmustern zu trennen und offen zu sein für Neues. Die eigenen Kriterien stehen nicht mehr im Mittelpunkt sondern am Rand. Im Dialog mit Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten etc. werden Wahrnehmungen abgeglichen, es entsteht ein neuer Zustand der Aufmerksamkeit.
3. Sensing – einfühlen und öffnen
Dieser dritte Schritt appelliert an das Bauchgefühl und erfordert das Öffnen in drei Ebenen:
- Open Mind – die Öffnung des Denkens hinsichtlich bekannter Denkmuster und kognitiven Wissens
- Open Heart – die Öffnung des Fühlens in Bezug zur emotionalen Intelligenz
- Open Will – die Öffnung des Willens in Bezug zur spirituellen Intelligenz.
Eine Transformation der aktuellen Vorstellungen findet statt. Es ist das Öffnen in Bezug auf die umgebende Umwelt.
4. Presencing
Presencing ist die Öffnung in Bezug auf die tiefere Quelle des Selbst. Es stellt den Zugang zu den inneren Quellen von Kreativität und Wollen dar.
Diese Quellen werden sich zu eigen gemacht und für das eigene Denken, Handeln und Fühlen verwendet. Scharmer meint: „The fields collapse“ – die Gegenwart und Zukunft fallen zusammen.
5. Crystallizing
Das U geht rechts wieder nach oben. Das Neue wird nun in Visionen und Zielen gebündelt. Es wird in Worte gefasst und somit greifbar gemacht.
6. Prototyping
Nun geht es an die Umsetzung der Vision. Das schnelle und direkte Einfließen der neuen Ideen in Prototypen steht im Mittelpunkt. Herz, Verstand und Handeln werden zusammengeführt. Drei klare Störenfriede gilt es beiseite zu schieben:
- Umsetzen ohne Improvisation, Aufmerksamkeit und Bedachtsamkeit,
- endloses Reflektieren, ohne ins Handeln zu gelangen und
- Sprechen ohne Bezug zu Hintergrund und Aktion (typisches Bla-bla).
7. Performing
Die tatsächliche Umsetzung, nicht nur die Implementierung eines Prototypen, sondern das konkrete Agieren im neuen Umfeld/das Einsetzen der neuen Methode ist das Ziel. Dabei ist ein limitierter Blick auf den Prozess nicht sinnvoll, sondern die Scheuklappen müssen abgelegt sein, um das Ganze, das Unternehmen im Auge zu behalten.
Das eigentliche Ziel ist und bleibt das Performing, vor dem U-Prozess und danach, denn das ist der Unternehmensinhalt. Und Führungs-Skills – wie eben Presencing – müssen den reibungslosen Ablauf im Visier haben.
Fazit
Das Modell mutet sehr schwer greifbar und abgehoben an. Ob es sich in Österreich durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Natürlich wäre es sinnvoll, auf neue Situationen nicht ausschließlich von bereits bekannten Blickwinkeln zuzusteuern, sondern mit neuen Lösungen reagieren zu können. Ein Über-Bord-Werfen eingefahrener Bahnen und Muster ist sicherlich hilfreich bei völlig neu auftretenden Situationen.
Doch widerspricht dieses Modell dem Effizienzstreben unserer Wirtschaft. Obwohl, in Zeiten wo auch Coaching und andere Tools immer mehr Eingang finden in die Führungsetagen, könnte auch Presencing seine Nische finden.
Literatur
- Senge, Scharmer, Jaworski, Flowers (2008): Presence. Human Purpose and the field of the Future, B&T Verlag, ISBN 978-0385516303
- Senge, Scharmer, Jaworski, Flowers (2005): Presence: an Exploration of Profound Change in People, Organizations and Society, Currency Verlag, ISBN 978-0385516242
- Scharmer (2007): Theory U: Leading from the Future as it Emerges, SoL, ISBN 978-0974239057
Info
- www.ottoscharmer.com
- www.theoryU.com
- www.presencing.org
- http://solutionmanagement.at/reihe-highlights/scharmer/
Presencing – Neue Lösungswege für neue Aufgaben