Mitarbeiter und Teams, die sich oder ihre Arbeit selbst organisieren, sind für den Unternehmens-Erfolg zwar wichtig, fallen jedoch nicht vom Himmel. Sie müssen sich entwickeln – ebenso wie eine entsprechende Unternehmenskultur.
Autor: Klaus Kissel
Welcher Mitarbeiter-Typ bereitet Führungskräften weniger Arbeit: Mitarbeiter, denen man permanent sagen muss „Tue dies und tue das“, oder Mitarbeiter, die sich und ihre Arbeit weitgehend selbst organisieren? Der letztgenannte Mitarbeiter-Typ selbstverständlich! Entsprechendes gilt für Teams.
Doch Mitarbeiter und Teams, die sich und ihre Arbeit selbst organisieren können, fallen nicht vom Himmel: Sie entwickeln sich allmählich – zumindest, wenn das Ziel lautet: Die Mitarbeiter und Teams sollen nicht nur Routineaufgaben weitgehend eigeninitiativ und -verantwortlich erfüllen, sondern auch neue, herausfordernde Aufgaben, die man nicht nach dem gewohnten Schema F abarbeiten kann.
Genau solche Mitarbeiter und Teams benötigen die Unternehmen zunehmend in der von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUCA-Welt – zumindest, wenn sie
- schnell und flexibel bzw. agil (um das aktuelle Modewort zu gebrauchen) auf Marktveränderungen und veränderte Kundenwünsche reagieren möchten und
- ihre Innovationskraft und -geschwindigkeit steigern möchten.
Wo ist eine höhere Agilität, Selbstorganisation nötig?
Doch gilt das für alle Aufgaben? Nein! Denn auch in der VUCA-Welt gibt es in jedem Unternehmen Aufgaben, die wenn nicht nach Schema F, so doch nach definierten Standards erledigt werden müssen, damit zum Beispiel die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden oder den Kunden zeit- und ortsunabhängig stets die gewünschte Qualität geliefert wird.
Deshalb sollten Unternehmen, die beispielsweise ihre Agilität erhöhen möchten, um zukunftsfit zu sein, zunächst analysieren: In welchen Bereichen unserer Organisation
- ist zum Erfüllen welcher Aufgaben eine höhere Agilität von Nöten und
- müssen unsere Mitarbeiter und Teams deshalb über eine hohe Kompetenz zur Selbstorganisation und Selbstführung verfügen?
Wie reif ist der Bereich zur Selbstorganisation?
Steht dies fest, sollte bezogen auf die betreffenden Bereiche analysiert werden: Wie reif ist der Bereich für eine Selbstorganisation? Denn damit sich dessen Mitarbeiter und Teams weitgehend selbstständig führen und organisieren, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein.
Voraussetzung 1: Die Mitarbeiter und Teams müssen dazu bereit und fähig sein, Verbesserungschancen eigenständig wahrzunehmen und zu nutzen. Entsprechendes gilt für Probleme, die letztlich stets Verbesserungs- und Lernchancen sind. Auch diese müssen sie in der Lage sein zu erkennen, deren Ursachen zu analysieren und zu lösen. Sonst überfordert sie die Aufforderung „Organisiert euch und eure Arbeit selbst“ – insbesondere, wenn zudem nicht die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. .
Voraussetzung 2: In dem Bereich muss eine Vertrauenskultur bestehen – und zwar hierarchie- und funktionsübergreifend. So müssen die Führungskräfte unter anderem das Vertrauen haben, dass die Mitarbeiter und Teams über die Kompetenz verfügen, die ihnen übertragenen Aufgaben den angestrebten Zielen gemäß zu erfüllen. Sonst übertragen sie ihnen weder die Entscheidungs-, noch Handlungsbefugnisse, die sie für ein eigenständiges Handeln brauchen. Zudem müssen die Mitarbeiter darauf vertrauen, dass ihre (Team-)Kollegen die ihnen übertragenen (Teil-)Aufgaben wie vereinbart ausführen. Sonst sind Konflikte im Team, die zu Reibungs- und somit Effizienzverlusten führen, vorprogrammiert.
Zugleich müssen jedoch die Mitarbeiter und Teams darauf vertrauen, dass ihre Vorgesetzten hinter ihnen stehen, und sie zum Beispiel, wenn sie beim Lösen eines Problems oder einer Aufgabe begründet vom gewohnten Vorgehen abweichen und scheitern, nicht sofort am Pranger stehen. Fehlt dieses Vertrauen werden sie
zu Recht beim Lösen herausfordernder Aufgaben selten neue und somit risikobehaftete Wege gehen; oder sie stehen beim kleinsten Problem, wie gehabt, bei ihrer Führungskraft auf der Matte und fragen „Dürfen wir…“ oder „Sollen wir…“ – womit sich in der Organisation also nichts verändert hat.
Voraussetzung 3: Eine weitere Grundvoraussetzung für Selbstorganisation ist, dass den Mitarbeitern beziehungsweise Teams alle für ein eigenständiges Entscheiden erforderlichen Infos zur Verfügung stehen. Dies bezieht sich nicht nur auf die nötigen Fach-, Markt- und Kundeninfos, sondern auch die Zielsetzungen des Unternehmens sowie die strategische Marschrichtung, die es bei deren Erreichung verfolgt. Möchte das Unternehmen zum Beispiel der Innovationsführer oder der Serviceführer oder der kostengünstigste Me-too-Anbieter in seinem Markt sein? Und bedeutet „Serviceführer sein“ für das Unternehmen, den Kunden die innovativsten Lösungen oder die umfassendsten Servicepakete oder die beste Kosten-Nutzen-Relation zu bieten?
Fehlen den Mitarbeitern und Teams diese Infos, dann können sie oft nicht entscheiden, was es zu tun gilt, um die übergeordneten Ziele zu erreichen. Sie wissen auch nicht: Bei welchen Problemen beziehungsweise Entscheidungen sollten wir Rücksprache mit unseren Chefs halten, weil diese eventuell mit den Zielsetzungen und der Strategie des Unternehmens kollidieren? Das heißt, den Mitarbeitern und Teams fehlt im Arbeitsalltag die erforderliche Orientierung. Entsprechend zögerlich und vorsichtig agieren sie.
Selbstorganisation setzt Kulturwandel voraus
Obige Ausführung zeigen: Wollen Unternehmen, die Selbstführung und -organisation in ihrer Organisation forcieren, dann muss sich in ihr in der Regel ein Kulturwandel vollziehen. Es genügt also nicht, die Prozesse zu verändern und solche Werkzeuge wie Scrum einzuführen, vielmehr muss sich
- das Mindset aller Betroffenen – bereichs-, funktions- und hierarchieübergreifend – und
- ihre Art, miteinander zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten, ändern.
Ein solcher Change erfordert Zeit. Zudem gilt es bei ihm, wie bei allen Change-Prozessen, das berühmte Tal der Tränen zu durchschreiten, bei dem scheinbar alles schlechter als früher funktioniert, weil die Betroffenen oder Beteiligten noch keine Routine unter anderem
- in der neuen Art zusammenzuarbeiten,
- in der neuen Art zu kommunizieren,
- in der neuen Art, Entscheidungen zu treffen, und
- in der Handhabung der neuen Methoden und Tools
gesammelt haben.
Deshalb brauchen solche Changeprozesse nicht nur starke Promotoren auf der oberen Führungsebene von Unternehmen, sondern auch auf den ihnen nachgeordneten Ebenen. Denn die operativen Führungskräfte sind es in der Regel, die den Mitarbeitern und Teams im Arbeitsalltag die nötige Orientierung geben müssen und sie stets auf Neue, auch im Tal der Tränen, für die neue Form der (Zusammen-)Arbeit motivieren müssen – unter anderem, indem sie ihnen immer wieder
- vermitteln, warum sich ein Engagement für das Ziel „mehr Selbstführung und Selbstorganisation“ für die Mitarbeiter und das Unternehmen lohnt, und
- vor Augen führen, welch scheinbar kleinen, jedoch sichtbaren Erfolge auf dem Weg zum großen Ziel bereits erzielt wurden.
Arbeiten am System statt im System
Dies ist keine leichte Aufgabe – zumal sich, wenn das Ziel mehr Selbstführung und Selbstorganisation lautet, auch das Selbstverständnis der Führungskräfte sowie ihr Führungsverhalten ändern muss. Noch führen viele Führungskräfte nach dem Prinzip „Führen im System“; das heißt, sie sehen ihre Kernaufgabe darin, Mitarbeiter anzuleiten, zu steuern und die fachliche Qualität ihrer Arbeit zu kontrollieren. Entsprechend groß ist ihre Arbeitsbelastung im Betriebsalltag.
Diese Führungsarbeit gilt es zu minimieren, indem die Führungskräfte statt im System sozusagen am System arbeiten. Hierbei hat Führung vor allem folgende Funktionen:
- die Rahmenbedingungen für eine Selbstorganisation und für ein selbstgesteuertes Arbeiten der Mitarbeiter und Teams schaffen,
- den Mitarbeitern vermitteln, warum ein solches Arbeiten sinnvoll ist,
- sie beim eigeninitiativen und -verantwortlichen Handeln coachend unterstützen und begleiten,
- ihnen die hierfür erforderlichen Infos bereit und zur Verfügung stellen und
- ihnen abgeleitet aus den Strategien sowie den übergeordneten Zielsetzungen des Unternehmens die Bedeutung ihres Tuns für den Unternehmenserfolg aufzeigen.
Selbstorganisation entlastet Führungskräfte
Statt im System zu arbeiten, also sich weitgehend mit operativen Aufgaben zu befassen, sollten die Führungskräfte also verstärkt am System arbeiten. Das heißt, sie sollten dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiter eigenverantwortlich die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen können und die hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen existieren. Für diese veränderten Führungsaufgaben müssen die Führungskräfte qualifiziert werden. Zudem sollten sie, solange bei ihnen noch nicht die erforderliche Verhaltenssicherheit besteht, beim Wahrnehmen dieser Aufgaben gecoacht werden.
Für die Führungskräfte bedeutet der Change-Prozess in Richtung sich selbstorganisierender und -steuernder Mitarbeiter und Teams zunächst eine Mehrbelastung – auch in emotionaler Hinsicht – solange sie und ihre Mitarbeiter noch keine Routine in dieser Arbeitsform haben und sozusagen noch am Experimentieren sind. Mit der Zeit, wenn die gewünschte Verhaltenssicherheit entsteht, führt sie jedoch zu einer Entlastung von ihnen. Denn je stärker ihre Mitarbeiter das eigenverantwortliche und -initiative Arbeiten verinnerlicht haben und je stärker sie in der Lage sind, sich selbst zu führen und organisieren, umso komplexere Aufgaben können die Führungskräfte ihnen zum eigenständigen Bearbeiten übertragen. Und umso seltener müssen sie als „Troubleshooter“ korrigierend eingreifen.
Gast-Autor
„Durch Selbstorganisation die Führungsarbeit minimieren“
Klaus Kissel ist einer der beiden Geschäftsführer des ifsm Institut für Sales & Managementberatung, Höhr-Grenzhausen bei Koblenz (www.ifsm-online.com). Der Systemische Coach und Organisationsentwickler ist unter anderem Autor des Buches „Prinzip der minimalen Führung“ (Windmühle-Verlag).